Für Retter jüdischer Musik wird Lebenstraum wahr

Hannover (dpa) - Kurz vor dem Ziel ist für Andor Izsák die Erwartungsfreude größer als die Erschöpfung. Die Augen des 67-Jährigen strahlen hinter den dicken Brillengläsern, wenn er Besucher vorbei an Farbeimern, Leitern und Gerüsten durch die fast sanierte Villa Seligmann führt.

Der prachtvolle Neorenaissance-Bau in Hannover soll eine Heimat für die Synagogenmusik und ein Anziehungspunkt für Musikfreunde aus aller Welt werden. „Ich möchte die verschüttete Klangwelt wieder erlebbar machen“, sagt der Organist und Dirigent. „Jüdische Musik soll als Teil der europäischen Kulturlandschaft wahrgenommen werden.“

Bei der Eröffnung der Villa am kommenden Dienstag will auch Bundespräsident Christian Wulff sprechen. Für sein größtes Projekt hat Izsák schon früh den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten als Unterstützer gewonnen. Wulff war lange Vorsitzender des Kuratoriums der Siegmund Seligmann Stiftung, die 2006 zur Errichtung der Forschungs- und Begegnungsstätte gegründet wurde. Unternehmer spendeten Millionen für den Kauf und die Sanierung der 1600 Quadratmeter großen Villa, die der Direktor der Continental Werke, Siegmund Seligmann, 1906 erbauen ließ. Das Haus wurde wieder in den Originalzustand versetzt. Es ist eines der wenigen Zeugnisse jüdischen Lebens vor der Shoa in Norddeutschland.

„Die wichtigsten Gäste sind für mich die Holocaust-Überlebenden“, sagt Izsák, der 1944 im Ghetto von Budapest geboren wurde und wie durch ein Wunder dem Tod entkam. Seine Liebe zur Orgelmusik entflammte in der Budapester Dohány-Synagoge. Als der Ungar in den 80er Jahren mit seiner Frau, der Pianistin Erika Lux, nach Deutschland kam, stellte er voller Bedauern fest, dass die meisten jüdischen Gemeinden in Westeuropa musikalisch nicht an die Vorkriegstradition angeknüpft hatten.

„Ich stand da mit leeren Händen, aber einem lebendigen inneren Soundgedächtnis.“ Izsák gründete 1988 in Augsburg das Europäischen Zentrum für Jüdische Musik (EZJM), das 1992 Institut der Hochschule für Musik und Theater Hannover wurde. Wie ein Detektiv sucht er seither weltweit bei den Nachkommen jüdischer Musiker nach Noten und Tonträgern, die aus den brennenden Synagogen gerettet werden konnten. Izsák veröffentlicht Dokumente und CDs, er gibt Konzerte in Kirchen und Konzerthäusern. Im Salon der Villa Seligmann können Gäste künftig die Klänge in besonderer Atmosphäre erleben. Herzstück ist eine Synagogenorgel aus Berlin, die Izsák in einer katholischen Kirche im rheinland-pfälzischen Weinsheim entdeckte und restaurieren ließ.

Die erste Synagogenorgel wurde 1810 im Jacobstempel in Seesen im Harz aufgestellt, gleichzeitig markiert dieses Datum die Geburtsstunde des liberalen Judentums. „Die Musik schlägt eine Brücke zwischen Kirchen und Synagogen. Die Melodien erinnern an Schubert, Brahms oder Mendelssohn. Kombiniert wird oft ein orientalisch singender Kantor mit einem abendländisch singenden Chor“, beschreibt der Professor. „Die Wiederentdeckung der synagogalen Musik bietet gerade für uns Deutsche eine gute Gelegenheit, sich mit der langen Geschichte des Judentums in unserem Land zu befassen - bis hin zur Vernichtung auch dieser Tradition durch die Verbrechen des Holocausts“, sagt Izsáks Biograf, der stellvertretende NDR-Intendant Arno Beyer.

Als „erfolgreichen Einzelgänger“ charakterisiert Beyer den Ungarn, dessen bewegende Lebensgeschichte das Buch „Andor der Spielmann“ erzählt. Mit Hartnäckigkeit und Begeisterung wirbt er für seine Vision. Der Chef der Drogerie-Kette Dirk Roßmann etwa gab 500 000 Euro. „Vor dem Hintergrund der mit Schuld beladenen deutschen Geschichte gegenüber dem jüdischen Volk war ich schnell bereit, einen Beitrag zu leisten“, sagt er.

Vier neue Stellen bekommt das Zentrum für Jüdische Musik in der Villa Seligmann. Der Direktor hat unendlich viele Ideen für neue Projekte. Seine Privatsammlung wird erforscht, Konzerte sollen mitgeschnitten werden. Vom Kronleuchter im Salon führen Kabel in die darüber liegende Waschküche, die als Tonstudio ausgebaut wird. Andor Izsák lebt weiter seinen Traum: „Ich möchte, dass der Ort ein Begriff wird wie die Villa Stuck in München oder die Villa Hügel in Essen.“

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