Frankreich: Maulkorb für Preisträgerin?

Die Schriftstellerin Marie NDaiye hat ihr Land und seinen Präsidentin Sarkozy heftig kritisiert. Dafür erntet sie Tadel eines Politikers aus der konservativen Regierungspartei.

Paris. Der "Prix Goncourt" ist der angesehenste Literaturpreis im wortverliebten Frankreich. Aber verpflichtet er die Lorbeerträger zu einer besonderen "Reserviertheit" - etwa gegenüber dem Präsidenten?

Eric Raoult jedenfalls, ein konservativer Abgeordneter aus Sarkozys Regierungspartei, verlangt diese demonstrative Unterwürfigkeit von keiner Geringeren als der soeben ausgezeichneten Schriftstellerin Marie NDiaye. Und hat damit eine für französische Verhältnisse äußerst peinliche Debatte losgetreten.

Ausgerechnet Frankreich. Jenes Land, das sich seit jeher als Exporteur universal gültiger Werte wie Freiheit und Gleichheit versteht. Dessen tolerante Hauptstadt überdies seit Jahrhunderten als Zufluchtsort für verfolgte Künstler der ganzen Welt dient. Ist also etwas dran an Marie NDiayes beißender Fankreich-Kritik, die den Stein ins Rollen brachte?

Im August hatte die wortgewaltige Schriftstellerin ("Drei mächtige Frauen") ein Interview gegeben, in dem sie das Sarko-Land als "monströs" karikierte. In Anspielung auf die Politiker Hortefeux (Inneres) und Besson (Einwanderung) fügte sie hinzu: "Ich finde diese Atmosphäre aus Überwachung und Vulgarität abscheulich."

Bereits vor zweieinhalb Jahren, just nach der Wahl Sarkozys zum Staatspräsidenten, hatte Marie NDiaye die Konsequenzen gezogen und Frankreich den Rücken gekehrt. Verkehrte Welt: Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie seitdem in Berlin - in einer Art Exil. "Wir sind frei nach Frankreich zurückzukehren, aber wir haben nicht die geringste Lust dazu", sagt sie in "Libération". Starker Tobak - aber rechtfertigt dies den von Raoult geforderten Maulkorb?

"Das ist verrückt und absurd", findet Bernard Pivot, der seit 2005 der Akademie Goncourt angehört. Auch Preisträger Patrick Rambaud, der im Januar den dritten Band seiner "Chronik der Herrschaft Nicolas I." vorlegt, faucht: "Er ist ein Idiot, dieser Monsieur weiß offenbar nicht, was ein Buch ist." Und fügt in der Zeitung "Le Parisien" hinzu, dass Raoult offenbar den "Prix Goncourt mit dem Miss France-Wettbewerb verwechselt".

Die Empörung unter den französischen Intellektuellen ist so groß, dass man Raoult als verirrten Einzeltäter abstempeln und zur Tagesordnung übergehen könnte. Doch es steckt mehr hinter dem Kulturstreit, der flankiert wird von einer schwärenden Identitätsdebatte. Eine Nabelschau, die die Franzosen so sehr lieben, dass sie sie in regelmäßigen Abständen anstellen.

Daniel Cohn-Bendit, Spitzenmann der Grünen bei der Europawahl, kanzelt Eric Raoult nicht nur als fiesen "lêche-botte", als "Speichellecker Sarkozys" ab. In der Zeitung "Le Post" bereichert er die französische Identitätsdebatte mit der bitteren Erkenntnis, ganz Frankreich sei "eine Republik von Schleimern".

Da Eric Raoult seinen Protestbrief an den Kulturminister adressierte, richten sich die Blicke nun auf Frédéric Mitterrand. Dieser ist der Neffe des früheren sozialistischen Staatschefs und gilt eigentlich als das linksliberale Aushängeschild des Sarkozy-Kabinetts. "Ich hoffe, dass er schnell reagiert, schließlich ist er ja auch Schriftsteller", sagt Goncourt-Preisträger Tahar Ben Jelloun.

Doch der Minister, der im Juni angetreten ist mit dem Anspruch, die Kulturschaffenden zu unterstützen, windet sich in der Debatte wie ein Aal. Anstatt sich schützend vor die angegriffene Marie NDiaye zu stellen, gibt Mitterrand nun für viele unerwartet den neutralen Leisetreter.

"Ich bin nicht dazu berufen, das Büro für alle Klagenden zu sein", stellte er jetzt im "Libération"-Interview klar. Unvorteilhaft für den Minister: Als Roman Polanski verhaftet wurde, gehörte Mitterrand noch zu denen, die leidenschaftlich für den Star-Regisseur in die Bresche sprangen.

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