Glück: Bitter bis zum Happy End

Doris Dörrie macht sich auf die Suche nach dem „Glück“ und zeigt, wie man es finden kann.

Es gab Zeiten, da hatte Irina (Alba Rohrwacher) das, was andere Glück nennen, im Überfluss. Ihre Arbeit als Schneiderin machte ihr Spaß, ihre Eltern wohnten in Reichweite, mit ihrer Vespa besuchte sie sie regelmäßig auf ihrem Bauernhof, plantschte mit ihnen im nahe gelegenen See, saß mit ihnen bis in die Nacht zusammen — und lachte. Herzhaft. Und viel. Bis die Panzer kamen.

Doris Dörrie trägt hier bewusst dick auf. Das Glück muss für den Zuschauer nicht nur spürbar werden, es soll ihm regelrecht im Hals steckenbleiben. So, als würden einem die rauen Mengen an goldklarem Honig, den Irinas Mutter in große Schüsseln abfüllte und dessen raumgreifendes Zerfließen Dörrie in Zeitlupe auskostet, mit einem Trichter eingeflößt. Nichts von dem, was Irina hatte, kann sie hinüberretten in ihr neues Leben. Ihre Eltern werden von einem Söldnertrupp ermordet, sie selbst vergewaltigt, wie ein gehetztes Tier schlägt sie sich bis nach Berlin durch und bestreitet ihren Lebensunterhalt fortan als Prostituierte.

In der Straße, in der sie anschafft, begegnet sie dem Obdachlosen Kalle (Vinzenz Kiefer). Der Ball, den sein Hund apportieren soll, rollt vor Irinas Füße. Sie wirft ihn zurück, lächelt den jungen Mann an. Ein Flirt entsteht, nur sekundenlang, dann trennen sich ihre Wege. Beiden wird aber klar: Glück ist noch möglich. Um ihm auf die Sprünge zu helfen, besorgt Irina Kalle eine Decke, er klaut für sie ein Smartphone — das sie ablehnt, obwohl die Geste sie rührt. Aus der sachten Romanze in trister Umgebung wird Liebe. Bedingungslos, wie sich noch zeigt.

Die groben Parameter für ihr Planspiel in Sachen „Glück“ hat Doris Dörrie der gleichnamigen Kurzgeschichte aus Ferdinand von Schirachs Bestseller „Verbrechen“ entnommen. Der Hintergrund ihrer Figuren, woher sie stammen und wie genau sie abgerutscht sind, interessiert sie dabei nicht. Wichtiger sind Dörrie die Gesten, mit denen sich die beiden verlorenen Seelen verschrocken zurück ins Leben tasten. Musste sich Irina, bevor sie Kalle traf, Stecknadeln in den Oberschenkel stechen, um bei Panikattacken zu spüren, dass sie noch existiert, hielt den Stadtstreicher die Zuneigung zu seinem Hund emotional über Wasser.

Dörrie macht bei dieser Romanze das, was sie am besten kann: beiläufige Momente einfangen. Gemeinsames Schaukeln auf dem Spielplatz, ein improvisiertes Picknick am See, ein paar kurze Minuten in einem Luxusauto, das der Eigentümer vergessen hat abzuschließen — flüchtiges Glück lässt die beiden traumatisierten Menschen wieder atmen, an ein geregeltes Dasein glauben, das sie sich Schritt für Schritt gemeinsam erarbeiten.

Wie viel ihnen dieses Miteinander bedeutet, wird deutlich, als einen von Irinas Freiern auf ihrem Bett der Sekundentod ereilt. Weil sie die Abschiebung fürchtet, ruft sie nicht die Polizei, sondern irrt traumatisiert durch die Straßen Berlins. Als Kalle die Leiche findet, entscheidet er sich zu einem schier unfassbaren Vertuschungsmanöver.

Dass Dörrie sich dazu entschlossen hat, die Tat in all ihren unzumutbaren Einzelheiten zu zeigen, wie Kalle blutüberströmt schwitzt und keucht, sich windet und ekelt vor dem, was er tut, wirkt auf den ersten Blick verstörend, macht aber nur umso deutlicher, wie verzweifelt der junge Mann um seinen Lebenstraum kämpft. Nicht trotz, sondern genau wegen dieser visuellen Zumutung ist Dörries Glücksanalyse letztlich so stimmig. Ihre These: Nur wer die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit ausgelotet hat, weiß, was Glück bedeutet. Irina und Kalle haben es sich mehr als verdient.

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