Eine linke Idylle in Solingen

„Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ basiert auf Richard David Prechts autobiografischen Roman.

Düsseldorf. Wasserwerfer der Polizei treiben in Berlin die demonstrierenden Studenten auseinander, dazu trällert Heintje sein "Mama": Die Kontraste der 68er bringt Filmemacher André Schäfer auf den Punkt. Er verfilmt Richard David Prechts autobiografischen Roman "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" und zeigt die 60er als große Zeit des Umbruchs.

Der Regisseur stellt den vielen Zeitdokumenten die privaten Einsichten in eine westdeutsche Hinterhofidylle anno 1968 gegenüber. Denn die Familie Precht versuchte in Solingen jene linken Idealen zu leben, über die andere nur diskutierten.

Ihr Sohn Richard David wird 1964 geboren, in einer Zeit, in der sich alte und neue Nazis zur NPD formieren und die ersten Atomkriegsgegner auf die Straße gehen. Der Vietnamkrieg, der mit all seinen Schrecken durch Fernsehen und Zeitung bis in die Kleinstadt dringt, bringt die Eltern Precht zum Handeln.

Sie engagieren sich bei Terre des Hommes und adoptieren zwei Kinder aus Vietnam, obwohl sie selbst drei Kinder haben. Als Glücksfall erweist sich für den unterhaltsamen Dokumentarfilm, dass es Fernsehaufnahmen der Familie Precht aus der Zeit gibt: der Vater, ein Industriedesigner bei Krups, mit Rauschebart und Strickpullunder, die Mutter ohne Schminke, dafür mit klaren Vorstellungen einer antiautoritären Erziehung.

Denn das ist das neue Zauberwort der Generation: antiautoritär. "Es enthielt etwas von einer Vision, einem besseren Leben", lautet der Kommentar Richard David Prechts, der die Zeit konsequent aus der naiven Sicht des Kindes schildert.

Die Schrift "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" von Alexander Sutherland Neill wird 1970, im ersten Jahr seines Erscheinens auf dem deutschen Markt, bereits 600 000 Mal verkauft. "Hier darf jeder machen, was er will", lautete die Devise. Mutter Precht verkündet getreu Neill: "Hier darf jeder machen, was er will.". Der Vater ergänzt: "Im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung.

So dürfen sich die Kinder künftig schmutzig machen, wenn ihnen danach ist, die Wände anmalen und müssen sich nie mehr die Zähne putzen. "Ich habe mit meinem Zahnputzbürste die Aquarien gesäubert", erinnert sich Precht. Kein Wunder, dass die Kinder es zu Hause selbst als schmuddelig empfinden. Im Film sagt die Schwester einmal: "Bei uns war es nicht so kuschelig, alles so kratzig, mit diesen ökologischen Teppichböden."

Die Eltern nennen sie nur noch Mo und Va, nicht mehr Mama und Papa. Doch konsequent ist auch diese antiautoritäre Erziehung nicht - "dazu war viel zu viel verboten", resümiert der Sohn. Die Kinder dürfen abends nicht lange ausgehen und sich beim Mittagessen nur ein Gemüse aussuchen, das sie nicht essen müssen.

Der Rest wird aufgegessen. Im Matheunterricht dürfen die Precht-Kinder als einzige keinen Taschenrechner benutzen, und beim Klassenausflug ins Phantasialand bleiben sie zu Hause und müssen "zähneknirschend" in die Parallelklasse.

Der Antiamerikanismus der Eltern führt dazu, dass Richard David als Kind denkt: "Alle Amerikaner sind böse, mit Ausnahme der Neger." Amerikanische Fernsehserien wie Flipper und Lassie sind so verpönt wie Coca Cola und Hamburger. Sein Misstrauen gegenüber Amerika sei geblieben, sagt Richard David Precht.

Und wie erzieht er seine Kinder? "Ich versuche, sie auf die Gesellschaft vorzubereiten." Das ist seinen Eltern nicht geglückt. Richard David fühlte sich auf eine Welt vorbereitet, die nie kam.

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