Der vergessene Völkermord in China - Interview mit Ulrich Tukur

Am 1.4. kommt „John Rabe“ mit Ulrich Tukur in die Kinos. Er erzählt vom Massenmord an den Chinesen durch die Japaner.

Herr Tukur, John Rabe gilt als "der Oskar Schindler von China". Kannten Sie seinen Namen vor diesem Film?

UlrichTukur: Nein, auch nicht. Aber ich fand die Geschichte sofort faszinierend: ein durchschnittlicher Mann wächst in einer Krisensituation über sich selbst hinaus und rettet 250 000 Chinesen das Leben.

In seiner deutschen Heimat fällt er aber vollkommen der Vergessenheit anheim und muss dort feststellen, dass keiner von einem Verbrechen an der Menschlichkeit in einem fernen Land wissen will.

Tukur: Rabe ist sehr widersprüchlich! Er ist am Anfang dieser arrogante, paternalistische Europäer, der auf "dieses tölpelhafte Bauernvolk" herabschaut. Trotzdem hat er ein Herz für die Chinesen. Ja, er war ein Hitler-Bewunderer, er war ein ganz durchschnittlicher, ganz gewöhnlicher Mann seiner Zeit - nichts Besonderes!

Aber dann passiert das Massaker von Nanjing, als die Japaner sechs Wochen lang die Stadt terrorisieren und umhermetzteln - und plötzlich, als das Schicksal ihm diese Karte zuspielt, übernimmt Rabe die Verantwortung und wird zum Beschützer der Bevölkerung. In China ist er bis heute ein Held. In Deutschland ist er 1950 völlig verarmt gestorben, nachdem er jahrelang von Care-Paketen aus China gelebt hat.

Tukur: Das ist ein Phänomen, dieser vergessene Holocaust! Die Japaner haben sich bis heute nicht entschuldigt, sie haben es bis heute nicht einmal anerkannt! Das wäre an der Zeit, und das erwarten die Chinesen auch.

Tukur: Ja, natürlich. Ich habe sehr viel Dokumentarmaterial über dieses Massaker gesehen, das war so abscheulich, so grausig! Aber dass diese Verbrechen so vollkommen unter den Teppich gekehrt worden sind, ist unerhört!

Darauf zumindest können wir Deutschen rechtschaffen stolz sein: Dass wir vierzig, fünfzig Jahre lang versucht haben, herauszufinden, wie das Dritte Reich möglich war und dass wir uns entschuldigt haben. Es gibt so viele Völker, die das nie getan haben.

Tukur: Ich mache mir Notizen in meinen Kalender. Stichworte nur, aber sie genügen, um Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Erinnerungen sind doch alles, was man hat. Wir sind das, was wir erinnern.

Tukur: Vor allem an Schnee. Wir haben während unseres Drehs in Shanghai eine Schneekatastrophe erlebt - so viel Schnee hatte dort noch nie jemand gesehen. Wir kamen gar nicht mehr zum Drehort Saukalt war’s! In der Weihnachtspause, als wir eine Woche drehfrei hatten, war plötzlich ein ganzes Set verschwunden. Das Viertel mit den alten Wohnhäusern, in denen wir drehten, wurde über Nacht abgerissen.

Tukur: Dass ich die Wolkenkratzer um mich herum aus meinem Hotelzimmer im 38. Stock förmlich in die Höhe wachsen sah. Dass der Preis dieses Booms auch unglaubliche Umweltzerstörungen sind! Man konnte kaum duschen - das Wasser war so verseucht, dass es stank!

Oder das Essen: die chinesischen Kollegen haben mir erklärt, dass die Lebensmittel unter massiver Beigabe von Antibiotika produziert werden. Fischteiche werden mit Hormonen ausgelegt, um die Produktion zu beschleunigen. Daher bekommen viele Mädchen im Alter von zwei, drei Jahren schon ihre Periode, und die Jungs Bartwuchs. Aber man muss ja Massen ernähren - daher müssen die Lebensmittel künstlich billig bleiben.

Tukur: Mein Kollege Xang Liu, der nur aus Europa eingeflogenes Biogemüse aß, schimpfte immer: "Wenn du dich vergiften willst, dann geh’ in ein chinesisches Restaurant! Ich kauf’ hier nicht mal den Reis!" Mir war es wurscht. Ich fand alles köstlich. Vergiftetes Essen schmeckt offenbar auch gut. Und meinen Bartwuchs hatte ich ja schon.

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