Eine Botschaft der Neandertaler, die uns erst nach 60.000 Jahren erreicht

Warum die kürzlich in spanischen Höhlen gefundenen Zeichen trotz ihrer Schlichtheit für die Wissenschaft so sensationell sind.

Eine Botschaft der Neandertaler, die uns erst nach 60.000 Jahren erreicht
Foto: Federico Gambarini/dpa

Ardales/Mettmann. Es sind rote Punkte, Striche und Haken. Eigentlich nichts Besonderes, was Gerd-Christian Weniger, Direktor des Mettmanner Neanderthal-Museums, da noch vor ein paar Tagen in einer Höhle in Spanien, in der Cueva Ardales, betrachtet hat. Und doch sehen er und seine Wissenschaftler-Kollegen es als bahnbrechende Entdeckung an. Und als Bestätigung dessen, woran sie schon länger geglaubt haben und was Weniger, habilitierter Ur- und Frühgeschichtler, Zoologe und Ethnologe, so sagt: „Die Vorstellung dessen, was man bisher als Alleinstellungsmerkmal des modernen Menschen angesehen hat, hat sich aufgelöst. Nicht nur der anatomisch moderne Mensch war vor Zehntausenden Jahren in der Lage, abstrakte Zeichen zu entwickeln und diese zur Informationsübermittlung extern abzulagern. Das konnte auch der Neandertaler.“ Dieser sei dem modernen Menschen geistig nicht unterlegen gewesen. „Die Höhlenkunst war das letzte verbliebene Alleinstellungsmerkmal der modernen Menschen. Wir wissen nun, sie gehört auch zum kulturellen Erbe der Neandertaler.“

Eine Botschaft der Neandertaler, die uns erst nach 60.000 Jahren erreicht
Foto: A.W. Pike

In der wissenschaftlichen Welt wurde und wird dem Neandertaler, dem „Homo sapiens neanderthaliensis“, bis heute vielfach nicht zugetraut, vergleichbare intellektuelle oder kulturelle Fähigkeiten gehabt zu haben wie der „Homo sapiens sapiens“ (also unsereins). Der Neandertaler wurde zunächst über seine morphologischen Merkmale im Unterschied zu den anatomisch modernen Menschen definiert: die fliehende Stirn, die großen Überaugenwülste. Doch damit ist nichts über kulturelle Unterschiede ausgesagt. „Seit 25 Jahren verändert sich die Einstellung zu den Neandertalern dramatisch“, sagt Weniger. Die Geschichte der Neandertaler und der anatomisch modernen Menschen habe vor etwa 300.000 Jahren begonnen. Für die einen (die anatomisch modernen Menschen) in Afrika, für die anderen (die Neandertaler) in Europa. Vor etwa 40.000 Jahren verschwand der Neandertaler dann von der Bildfläche. Der anatomisch moderne Mensch kam von Afrika und dem vorderen Orient in unsere Breiten.

Eine Botschaft der Neandertaler, die uns erst nach 60.000 Jahren erreicht
Foto: P. Cantalejo

Als Erklärung für das Verschwinden der Neandertaler weist Weniger darauf hin, dass Europa geschichtlich immer ein Hochrisikoraum gewesen sei. Mit extremen Klimasprüngen, die dazu führten, dass die damals noch sehr kleinen Populationen immer wieder ausstarben. Und so war es denn auch vor etwa 40.000 Jahren.

Die für uns heutigen Menschen kaum überschaubare Zeitspanne spielt dann auch eine Rolle bei der sensationellen Entdeckung in Spanien. In den drei Höhlen La Pasiega, Maltravieso und Cueva Ardales konnte nun jeweils ein Alter von über 60.000 Jahren für Darstellungen der Wandkunst ermittelt werden. Wohlgemerkt zu einer Zeit, da ausschließlich Neandertaler auf der Iberischen Halbinsel lebten. Da die ersten anatomisch modernen Menschen Südwesteuropa erst vor 40.000 Jahren erreichten, müssen die Höhlenzeichnungen folglich von Neandertalern herrühren — und eben nicht von unseren Vorfahren.

Aber wie will man diese Urheberschaft nach einem solch langen Zeitraum überhaupt noch feststellen? Professor Weniger erklärt: „Mit der Uran Thorium Methode haben wir die Möglichkeit, Kalksinter, also Kalkanreicherungen, zu datieren.“ Zeitlich datiert werden nicht direkt die Höhlenzeichnungen selbst, sondern die Krusten über dem Sediment in den Höhlenwänden. „Wenn ich den Zeitpunkt datieren kann, zu dem sich der Sinter, also die Kalkanreicherung, gebildet hat, so habe ich auch ein Mindestdatum für die darunter liegende Kunst. Denn diese muss ja schon vorher da gewesen sein“, erklärt Weniger. Das Neue sei, dass diese Uran Thorium Methode es ermöglicht, eine Altersbestimmung auch wesentlich älterer Kunst vorzunehmen. Mithilfe dieser Datierungstechnik (basierend auf dem radioaktiven Zerfall von Uranisotopen im Thorium) können Forscher das Alter von Kalkablagerungen bis zum Maximalalter von 500.000 Jahren bestimmen. Damit reicht sie erheblich weiter zurück als die gängige Radiokarbonmethode. Die neue Methode führte also zur Feststellung, dass einige der gefundenen Zeichen deutlich älter sind als 40.000 Jahre. Und folglich von Neandertalern stammen müssen, weil nur diese zu der Zeit in der Gegend waren.

Nächste Frage an Professor Weniger: Aber was ist denn eigentlich so sensationell daran, dass auch Neandertaler Punkte Striche und Symbole an Höhlenwände malten? Schlichter geht es doch kaum. Der Professor kennt diesen Einwand. Wunderbare Tierzeichnungen, so sagt er, machten einen nur sehr kleinen Teil der eiszeitlichen Höhlenkunst aus. Die Mehrzahl der Zehntausenden Zeichnungen, die in europäischen Höhlen gefunden wurden, sei gerade nicht figurativ: bestehe also aus Strichen, Punkten oder Haken. Die kognitive Leistung liege hier darin, dass ein Informationsmedium genutzt wurde. Dass Informationen extern, nonverbal abgelegt wurden. Ein Beleg also, dass Informationstransfer stattgefunden hat. Und der könne eben auch durch drei Punkte geschehen.

Gerd-Christian Weniger beschreibt die sinnvoll erscheinende Strategie dieser Zeichen in der Höhle von Ardales: „Da wurden an bestimmten Stellen mit bestimmter Struktur Zeichen aufgebracht. Das ist nichts Spontanes. Keine Wandschmiererei im Vorbeigehen, sondern gezieltes Handeln. Die Urheber mussten Farben besorgen, präparieren, gezielt an bestimmte Stellen gehen.“ Aber welche Information liegt dahinter, was wollten die Neandertaler ihren Zeitgenossen sagen? Da ist der Professor ganz vorsichtiger Wissenschaftler: „Das wissen wir nicht, was damit ausgesagt wird, da haben wir keine Interpretationskompetenz. Wir können nur sagen, dass es sich um abgelegte Information handelt.“

Und was sind die Folgen der Entdeckung für unser Weltbild? Geht es gar um eine Kränkung des Menschen, wenn der Neandertaler einst mit ihm auf Augenhöhe war? „Beim Thema Neandertaler spielt das immer eine Rolle“, sagt Weniger. Es geht immer um die Bewertung der eigenen Spezies und die Einschätzung der eigenen Position. Da neigen wir natürlich immer noch dazu, uns als ,Super Sapiens’ zu verstehen, der besonders erfolgreich ist. Und dann kommt der Neandertaler und rückt immer näher an uns ’ran und kann alles, was wir auch können.“ Dahinter stecke letztlich ein imperiales Weltbild, die Sicht, am Ende der Schöpfungskette zu stehen.

Doch eben das versucht man auch im Neanderthal-Museum zurechtzurücken. Dass es eben nicht nur das Wir und das Ich gibt, sondern eine große Familie ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Der „Gedanke der globalen Menschenfamilie“, wie Gerd-Christian Weniger es ausdrückt.

Professor Gerd-Christian Weniger, Direktor des Neanderthal-Museums in Mettmann. Foto: F. Bischof

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