Ausstellung Deutschland: Ein Land sucht seine neuen Mythen

Mit dem Ende der Nazi-Zeit zerbrachen auch die großen sinnstiftenden Erzählungen der Deutschen. In Bonn gibt eine Ausstellung jetzt den kollektiven Erinnerungen nach dem Krieg Raum.

Ausstellung: Deutschland: Ein Land sucht seine neuen Mythen
Foto: dpa/er

Bonn. Ein Sockel, darauf in großen Lettern das Wort Mythos. Dahinter die Silhouette eines menschlichen Gehirns. Man könnte zu Beginn das Schlimmste befürchten, aber die neue Wechselausstellung im Bonner Haus der Geschichte ist alles andere als verkopft — auch wenn sich vieles im Kopf abspielt. Schon wenige Schritte später dringen Herbert Zimmermanns so oft gehörte Sätze ins Ohr: „Rahn müsste schießen! Rahn schießt!“ Dann bricht die Reportage ab. Das „Tor! Tor! Tor! Tor!“ wird im Kopf ergänzt — und schon ist man mittendrin in einem der größten deutschen Nachkriegsmythen: dem Wunder von Bern.

Die anfängliche Irritation ist gewollt. Weil sie die Besucher darauf stößt, mit welchem Mythenbegriff sie es in der Ausstellung zu tun bekommen. Nicht mit dem umgangssprachlichen, der vornehm irgendetwas zwischen verzerrter Tatsachenbehauptung und Lüge beschreibt. Sondern mit Mythen als „Erinnerungskonstruktionen“ des Gehirns, wie Ausstellungsleiter Daniel Kosthorst sagt. „Mythen rekonstruieren die Vergangenheit aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus“, beschreibt Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, den Ansatz der Ausstellung.

Die Bedürfnisse der Gegenwart: Das sind in diesem Fall die Bedürfnisse der Nation. Dass die Ausstellung „Deutsche Mythen seit 1945“ mit der Nachkriegszeit beginnt, ist keine Willkür. Es gibt diesen Raum am Schluss, in dem aus dem Off Redefragmente zu hören sind, die vor allem eines verdeutlichen: wie weit zurück andere Länder in ihren sinnstiftenden Erzählungen greifen können. Die deutschen Mythen vor 1945 dagegen: von den Nazis missbraucht, vergiftet, daraus lässt sich keine Identität mehr bilden. Sie muss neu gesucht werden — und wird zum ersten Mal gefunden mit der „Stunde Null“ und dem „Wirtschaftswunder“.

Das ist der westdeutsche Gründungsmythos. Der ostdeutsche vis-à-vis ist ein eher staatlich verordneter, der sich in Denkmälern niederschlägt, Antifaschismus und Frieden als Grundfeste des „Arbeiter- und Bauernstaates“ deklariert, aber in der Bevölkerung nicht wirklich verfängt.

Am Ende der Gründungsmythen von Ost und West findet sich noch eine feine widerborstige Pointe: In der Wand eingelassen, stehen sich ein Rotkäppchen-Sekt und ein Mumm-Sekt gegenüber. Denn in diesem Fall von Seltenheitswert hat 2002 die ostdeutsche Sektkellerei den westdeutschen Hersteller übernommen. Viele solcher Beispiele gibt es nicht nach 1990.

Überhaupt zeichnet sich die Ausstellung dadurch aus, dass sie ihre präsentierten Mythen zwar nicht durchgehend vom Sockel stößt, aber doch in einer zweiten Ebene immer wieder dem Widersprüchlichen Raum gibt, das bei der Verdichtung eines Mythos notgedrungen unter den Tisch fällt. Wie verträgt sich unser Selbstbild des ewigen Umwelt-Vorreiters samt seiner konsequenten Energiewende eigentlich mit diesem kleinen Atomkraftwerk, das als hübsche Dampfmaschine für die deutschen Kinderzimmer produziert worden war? Besonders bewegend aber sind die Tondokumente einer Bürgerversammlung im ostdeutschen Kavelstorf bei Rostock vom Dezember 1989. In dem kleinen Dorf war nach der Wende ein geheimes Lager voller Waffen entdeckt worden, mit deren Handel sich die DDR Devisen verschafft hatte. Und nun bricht sich die Empörung und tiefe Enttäuschung der Bürger Bahn, die den jahrelang geglaubten Mythos von der Friedensmacht DDR zerpflückt sehen.

Mythen, auch das wird deutlich, sind nicht in Stein gemeißelt. Sie kommen und gehen und verändern sich. Das Wunder von Bern zum Beispiel erlebt erst ab den 1990er Jahren seine Mythisierung, gipfelnd im Film von Sönke Wortmann. Manche Versuche verpufften nach Einschätzung der Ausstellungsmacher auch ganz — wie die zweifelsohne geniale „Bild“-Schlagzeile „Wir sind Papst“ oder die 2005 gestartete Kampagne „Du bist Deutschland“. Was gesellschaftlicher Konsens ist und sich als kollektive Erinnerung verfestigt, lässt sich nur schwerlich verordnen.

Vielleicht ist es das, was Europa fehlt. Auch diese Frage wird in Bonn aufgeworfen: was der alle und alles verbindende europäische Mythos sein könnte als Basis für eine europäische Identität. Am ehesten wohl noch das Bild des Friedensgaranten. 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Ihre Bürger bekamen ihn noch nie zu sehen. In Bonn ist die Originalmedaille ausgestellt. Ob das für eine Erinnerungskonstruktion reicht? Bedürfnis der Gegenwart wäre es in jedem Fall.

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