Zug um Zug: Reisende lecken Blut

In Wuppertal zeigt „Ich Tasche“ den Wahnsinn in einem ICE.

Wuppertal. Wenn ein Zug erst einmal ins Rollen kommt, ist die Kampfeslust kaum zu bremsen. Auch im kleinen Wuppertaler Schauspielhaus gibt es große Differenzen: Zwischen 156 fein säuberlich aufgereihten Stühlen prallen erste und zweite Klasse, überzeugte Platzreservierer und hoffnungsfrohe Auf-Gut-Glück-Sucher aufeinander - als ob sie sich nicht in einem ICE, sondern mit Übergepäck im Krieg befänden.

In Wirklichkeit quetschen, hüpfen und brüllen sich Sophie Basse, Holger Kraft, Maresa Lühle und Marco Wohlwend durch sechs Stuhlreihen: Die vier Darsteller teilen sich einzelne Sitze und insgesamt 20 Rollen. So wird "Ich Tasche" zum Wechselspiel zwischen Intimität und Distanz: Felicia Zeller zeigt Reisende, die wohl lieber allein im Abteil wären, aber auf engstem Raum miteinander auskommen müssen.

Da werden Beobachter zu Beobachteten, Freunde zu Feinden, Fremde zu Vertrauten. Und das Premierenpublikum hält in Peter Wallgrams einstündiger Inszenierung teilweise die Luft an - nicht nur, weil das Quartett in vollendeter Eintracht die Blähungen eines Sitznachbarn imitiert und damit die peinliche Nähe amüsant auf den Punkt bringt.

Überhaupt sind die chorischen Einsätze das Salz in der Suppe. Dabei wird Tragisches wie Komisches serviert: Kraft punktet als Platzhirsch, der im leeren Abteil den reservierten "Thron" verteidigt; Lühle kommt als kühle Geschäftsfrau zum Zug; Basse gibt einer Tasche, die keinen Halt findet und umkippt, ein nahezu menschliches Gesicht; und Wohlwend hat seine beste Szene als lauthals Verzweifelter, der am imaginären Mobiltelefon seine Beziehungsprobleme in Satzfetzen ausdiskutiert. All das ist mal komisch, mal unterhaltsam, mal faszinierend, mal nervig - wie bei einer echten Zugfahrt eben.

Die Produktion kommt durch gut gesetzte Einschnitte zügig in Fahrt: Chorische Passagen, kurze Musikeinspielungen und Durchsagen (auf Deutsch und herrlich bemühtem Schaffner-Englisch) ergeben stimmige Übergänge zwischen den einzelnen Szenen, die allesamt eine Mischung aus Annäherung, Grabenkämpfen und Gefühlsausbrüchen ergeben. Doch Wallgrams erste größere Regiearbeit ist nicht wirklich konsequent: Zellers rhythmisch-musikalische Texte, die sich an der Grenze zwischen Kunst und Realität bewegen, werden nur sporadisch wiederholt. Und um wirklich übertrieben zu wirken, müssten die Requisiten durchgängig überzeichnet sein.

So aber sind sie in überdimensionierter Form oder, im Gegenteil, gar nicht vorhanden. Einer Frau fehlt der erwähnte Spießbürger-Hut, dafür hat ein Mann absurde Fingerkrallen. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Minimalismus in noch absurdere Höhen zu treiben und nicht nur drei, sondern alle vier Schauspieler ganz in Weiß agieren zu lassen.

Einzelne Momente zeigen immerhin, wie schnell man in einer Zwangsgemeinschaft zum Außenseiter wird. Die Reaktionen der Premierenzuschauer waren denn auch so unterschiedlich wie die krass gezeichneten Charaktere im ICE - sie reichten vom derben Ruf ("Dafür braucht Wuppertal kein Schauspielhaus!") bis zu stehenden Ovationen.

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