Wuppertaler Bühnen/"Andorra": Der Himmel hängt voller Klischees

Kathrin Sievers zeigt ein aktuelles „Andorra“

Wuppertal. Der Himmel hängt nicht voller Geigen, sondern voller Klischees. Dabei hat das Deutschlandbild eindeutig zwei Seiten: Die Trachtendame, die im Wuppertaler Schauspielhaus großformatig unter der Decke baumelt, lächelt weiter, egal, welche Tragödie sich unter ihr abspielt. Und auch der Baukran daneben bleibt von den menschlichen Verfehlungen unberührt. Zwei Fotos, eine Aussage: Tradition trifft auf Innovation.

Auch die Inszenierung von Kathrin Sievers steht zwischen zwei Polen: zwischen der historischen Judenproblematik des Stücks und aktuellen Migrationsproblemen. Denn "Andorra" ist überall - nun auch in Wuppertal, wo die Regisseurin das Lehrstück von Max Frisch in die Gegenwart holt. Mit Türkenwitzen, Springerstiefeln und HipHop-Musik.

Kurzweilig, lebendig und dynamisch ist der Abend. Aber auch bilderlastig, mitunter posenplatt und musikgeladen. Denn die Welt im Kleinstaat Andorra gerät aus dem Takt, und die Lager werden klangvoll charakterisiert: Außenseiter Andri (Frederik Leberle), der zum Juden abgestempelt wird, ohne einer zu sein, hüpft und zuckt zu modernen Multikulti-Beats. Sein Gegenspieler, der breitbeinige Neonazi-Soldat (Henning Heup), brüllt aggressiv zu hämmerndem Rechtsrock.

Sievers nutzt Musik als Ausdrucksform einer Gesellschaft, die nicht aufrichtig Argumente austauscht, sondern sich lieber duelliert, indem Musikeinspielungen Finger schnipsend wie Pistolenschüsse abgefeuert werden - ein schöner Einfall, der allerdings über Gebühr zelebriert wird. Andri tanzt mitunter mehr als für die Wahrheit zu kämpfen.

An genau der zerbricht sein Vater: Mit nachvollziehbarer Verzweiflung spielt Georg Lenzen den Lehrer, der ein uneheliches Kind (Andri) gezeugt hat, Verachtung fürchtet und vorgibt, dass sein Sohn ein Judenkind ist, das er vor Antisemiten beschützt.

Dabei wurde der 46 Jahre alte Text gestrichen: Es ist keine ausländische Macht, die das Todesurteil über Andri spricht, es sind die Andorraner selbst. Egal, ob in Anzug oder Bomberjacke: Die Fremdenfeindlichen weisen Andri die eigenen Fehler zu, seine Pflegemutter steht rauchend daneben. Ihr Wohnzimmer steht auf einem Podest: Annette Wolf stattet die Bühne aus wie einen Messestand. Weil Andri wie ein Vorführstück wirkt, an dem sich die verlogene Mehrheit ergötzt?

Als Getriebener setzt Frederik Leberle seine ganze Körperlichkeit ein. Wie ein leidender Christus steht er am imaginären Kreuz: Die klare Bildsprache ist wie gemacht für einen Schulklassenbesuch. Am Ende ist die Musik aus, Andri am Boden. Kein großer Bühnenzauber also, aber ein Stoff, aus dem Klausuren sind.

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