Wo das Atmen erstickt wird

Der Wettbewerbs-Beitrags des Deutsch-Österreichers Michael Haneke, „Das weiße Band“, zeigt eine grausame Welt.

Cannes. Was ist ein deutscher Film? Einer von einem deutschen Regisseur, oder mit deutschen Darstellern, ein Film, der ein deutschsprachiges Drehbuch hat oder der in Deutschland gedreht wurde? Das ist eine Frage, die in Zeiten der internationalen Koproduktionen immer schwerer zu beantworten ist.

Michael Hanekes "Das weiße Band" ist der einzige Cannes-Beitrag, der als deutsch bezeichnet wird, obwohl auch andere Länder an ihm beteiligt sind: Sein Regisseur ist zwar Österreicher, aber die Schauspieler sind deutsch, Produzent Stefan Arndt (X Filme) ist deutsch und der Film behandelt ein deutsches Thema. Doch das tut Tarantino in seinem Kriegsfilm "Inglourious Basterds" ebenfalls.

Letztlich ist es egal, welchem Land ein Werk zugeschrieben wird. Hauptsache, es ist gut. Und in dem Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Cannes gibt es - Gott sei Dank - eine ganze Menge davon. Etwas zwiespältig bleibt allerdings der Eindruck von Hanekes "Das weiße Band", obwohl der zweieinhalbstündige mysteriöse Film durchaus fesselt.

Haneke, genau wie seine Mitstreiter Tarantino, von Trier, Pedro Almodóvar oder Ang Lee gern gesehener Gast in Cannes, erzählt die Geschichte einer dörflichen Gemeinschaft im protestantischen Norden Deutschlands. Sein in strengem Schwarzweiß gehaltener Film zeigt ein Sittengemälde aus den Jahren 1913 bis 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Haneke hat die Top-Riege der deutschen Darsteller verpflichtet, Ulruch Tukur ist dabei und Susanne Lothar, Burghart Klaußner, Josef Bierbichler und Branko Samarovski. Der Regisseur ("Funny Games", "Caché") verwebt ganz unterschiedliche Familiengeschichten in dieser nur vordergründigen Idylle.

Denn hinter den ordentlichen Fassaden herrscht eine Lieblosigkeit und Eiseskälte, die schaudern lässt. Da ist der strenge Pfarrer, der seine Kinder züchtigt und ihnen ein weißes Band umbindet, das sie ständig an ihre Reinheit erinnern soll. Oder der Arzt, der seiner Geliebten, der Hebamme, erst auf übelste Weise den Laufpass gibt und dann seine Tocher missbraucht. Oder der verzweifelte Bauer, der seine Frau bei einem Unfall verliert und seinem bitteren Leben ein Ende setzt.

Aus Sicht des verliebten Lehrers, der dem Hausmädchen des Barons den Hof macht, werden die Schicksale aufgeblättert. Erst als merkwürdige Überfälle auf einzelne Mitglieder der Gemeinde verübt werden, ein Kind geschlagen, ein anderes geblendet wird, dringt die Unruhe aus der hermetischen Gemeinschaft auch nach außen.

Das Außenleben wiederum, die politischen Ereignisse, finden nur schwachen Widerhall in dieser Gemeinschaft, die nach strengen Konventionen funktioniert und jede Freiheit und Lebenslust erstickt. Es gehört nicht viel dazu, nachzuvollziehen, wie aus den autoritären Strukturen 20 Jahre später der Faschismus entstehen kann. Der Schluss bleibt, typisch Haneke, offen. Der Zuschauer muss die Schicksale selbst in seiner Fantasie weiterspinnen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort