Uraufführung: „Nacht für Nacht sterbe ich mit ihm“

Leon de Winters „Dead End“.

Krefeld. Der Theaterzuschauer ist ein eher träges Wesen, gewöhnt an frontale Berieselung. "Dead End", eine wilde Mischung aus Schauspiel, Oper, Literatur, Fotografie und Videokunst, stellt ihn deshalb vor logistische Probleme. Im Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld, wo das Stück uraufgeführt wurde, soll er an das Geschehen herantreten und sich selbst ein Bild machen - doch die meisten stehen und staunen. Sie haben allen Grund dazu.

Ralph Goertz, Intendant der Kammeroper NRW und Regisseur von "Dead End", sprengt Grenzen, um für jeden Moment das passende Medium zu finden. Seine eigenen Video-Installationen, Frauenporträts der Essener Fotografin Jitka Hanzlová, die Musik von Xaver Poncette und die fünf hohen musealen Räume, durch die das Stück wandert, verbinden sich zu einer aufregenden, optisch-akustischen Verführung.

Das Herz von "Dead End" schlägt jedoch im Text, in jenen fünf Szenen voll Poesie, Schmerz und Hintersinn, die der niederländische Bestseller-Autor Leon de Winter eigens geschrieben hat. Ralph Goertz hatte über Monate dessen Agenten genervt und mit dem Schriftsteller einen Kneipenabend in Amsterdam verbracht. Danach sagte de Winter zu.

Sein Stück handelt vom jungen Thomas (Sebastian Spinnen und Tenor James McLean), dessen Vater als Fischer auf See ums Leben gekommen ist. Oft träumt der Sohn, wie er mit dem Vater (Heiner Take) zum Meeresgrund sinkt: "Nacht für Nacht sterbe ich mit ihm, ertrinke, ersticke. Aber ich bin bei ihm."

Was Thomas dann erlebt, inszeniert Ralph Goertz als grausame Zertrümmerung von Identität. Der Vater lebt als Geschäftsmann, der die Existenz seines Jungen komplett umkrempeln will: Zum jüdischen Glauben soll er konvertieren, seinen Namen ändern, in die Wirtschaft gehen.

Goertz setzt dazu den verstörten Thomas in eine Holzkiste, einen Seelensarg, den der Vater von außen brutal mit Schlägen malträtiert. Eine Überwachungskamera schaut ins Innere der Kiste, auf drei Bildschirmen ist die beklemmende Szene zu sehen. Hier gelingt Goertz eine visuelle Verdichtung, die im herkömmlichen Theater kaum möglich wäre.

Im letzten Raum der Aufführung wirft Thomas beide Identitäten von sich: Die kindliche, die der Vater ihm geraubt hat, und die erwachsene, die er ihm aufzwingen will. Aus Thomas Grünfeld wird Tom Green, ein gefeierter Schauspieler, der mit Wonne die Identitäten wechseln darf.

Die zerrissene Musik, McLeans klarer Gesang, das nervöse Spiel des Schauspielers Spinnen, die Fotos an der Wand - all dies fließt auf einen schmalen Gang in der Mitte des Raumes zu. Die Zuschauer dürften näher treten, doch sie bleiben stehen, verwundert, irritiert in ihren Gewohnheiten, aber vor allem: gefesselt. Bis 5. 10.; Eröffnung der Ausstellung "Dead End" morgen, 11.30 Uhr; Performances: heute, morgen, 26., 27. 9., jeweils 20.30 Uhr. Karten: 0 21 51/97 55 80

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