Uraufführung Marthalers Politsatire „Die Wehleider“ enttäuscht in Hamburg

Hamburg (dpa) - Eine verkommene Turnhalle mit kaputten Fenstern, schmuddeligen Wänden und Neon-Beleuchtung, auf dem Fußboden bunte Matratzen. Zögernd treten einige Menschen europäisch-bürgerlichen Typs ein, die Frauen teils in aufgemotztem Chanel-Look der 1970er Jahre gekleidet.

Uraufführung: Marthalers Politsatire „Die Wehleider“ enttäuscht in Hamburg
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Auch ein dicker Mann in Donald-Trump-Optik (Josef Ostendorf) ist dabei. Sogleich machen die Ankömmlinge einander die Matratzen streitig, auf denen sie sich niederlassen, während jemand am Klavier eine flotte Melodie spielt. „Ich begrüße Sie in der privaten Spezialklinik für Angst, Depression und psychosomatische Störungen“, erklärt eine resolute ältere Ärztin (Irm Hermann) vom oben umlaufenden Gang herunter.

Uraufführung: Marthalers Politsatire „Die Wehleider“ enttäuscht in Hamburg
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Das Krankenhaus habe die Halle „aufgrund der großen Nachfrage“ angemietet. Und schon bald beginnen rabiate Wärter mit offensichtlichem Migrationshintergrund - die später auch mal die Sportanimateure geben - mit der Behandlung ihrer erschlafften, nervösen und egozentrischen Patienten. Die intonieren mit Engelszungen Gesangsnummern von Brahms’ „Das Deutsche Requiem“ und Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ bis Baccaras „Yes Sir, I Can Boogy“. Alles an Burnout leidende Menschen, deren dünne kulturelle Lackschicht über ihrem dürftig-desorientierten Inneren mehr und mehr abplatzt. So sieht der Starregisseur Christoph Marthaler die Mittelschichtler im Zeitalter der Flüchtlingskrise in seiner Politsatire „Die Wehleider“.

Uraufführung: Marthalers Politsatire „Die Wehleider“ enttäuscht in Hamburg
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Bei der Uraufführung am Freitagabend im nicht ganz ausverkauften Deutschen Schauspielhaus Hamburg bekam der 65-jährige Schweizer dafür Beifall, aber auch Buhrufe und Pfiffe. In erster Linie erschöpft wirkten viele im Publikum - und das lag wohl nicht nur an der deutlich gespürten Länge von fast zweieinhalb Stunden. Vor allem inhaltlich blieb vieles plakativ an der Aufführung, zu der Marthaler und seine Dramaturgin Stefanie Carp sich eher allgemein von Gorkis Spätbürger-Klassiker „Sommergäste“ von 1904 haben anregen lassen.

Auch stilistisch war kaum Kraftvolles zu erleben. Denn neben den bekannten Marthaler-Zutaten wie der imposant-altmodischen Ausstattung von Anna Viebrock und Mitgliedern seiner Schauspieler-Familie, zu der auch Bettina Stucky, Jean-Pierre Cornu und Clemens Sienknecht gehören, zitiert der Theatermusiker sich hier vor allem selbst.

Bereits die Grundsituation einer Art Domina, die eine Gruppe gesellschaftlicher Repräsentanten dirigiert, erscheint wie ein Wiederaufwärmen seines Hamburger Bühnenhits „Die Stunde Null oder die Kunst des Servierens“ aus dem Jahr 1995. Auch wie der Akteur Cornu sich ausgiebig Nivea-Creme in den Mund stopft, war dabei bereits zu sehen. Und der wunderschöne Gospel „Throw Out The Lifeline“ war schon in Marthalers umjubelter „Was ihr wollt“-Interpretation 2001 am Schauspielhaus Zürich ein Schlager. Die wesentlichere Kritik an seiner Gesellschaftsanalyse dürfte dennoch sein, dass sie mit oberflächlichen Plattitüden langweilt - und schließlich eine kaum durchdachte kurze Welt-Dystopie anpappt.

So hat es bei dem Stück Methode, dass sich die namenlosen, sich etwa an Yoga und Öko-Food klammernden Figuren mit Alltagsfloskeln selbst charakterisieren sollen. Die monologischen Sprüche wie „Der europäische Mensch ist human und seine Geschichte ist gut“, „Ich bin für eine offene Gesellschaft. Aber ich möchte persönlich damit nichts zu tun haben“ und „Seit ich meine Zweitwohnung aufgeben musste, habe ich jeden Tag bohrende Kopfschmerzen“ sollen ironisch entlarven. Sie provozieren denn auch Lacher, tragen aber wenig zu Erkenntnissen bei.

Im Laufe des Abends wird die Privatklinik von einem globalen Konzern übernommen. Am Ende skizziert der Regisseur ein zukünftiges Tribunal vor einem Weltgericht: Stotternde Entscheidungsträger eines einstigen Europas haben sich dann wegen einer gigantischen humanitären Katastrophe zu verantworten.

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