Entfesselte Feier der Natur

Tanz: Die Choreografin Marie Chouinard gastiert in Düsseldorf.

Düsseldorf. "Holt einen Arzt", rief jemand im Zuschauersaal. Eine Dame ohrfeigte einen Herrn, Zuschauer forderten einander zum Duell. Igor Strawinsky erhob sich mit eingezogenem Kopf von seinem Sessel und verließ, höflich nach links und rechts winkend, das Théâtre des Champs-Elysées.

Schmunzelnd erinnerte sich der betagte Strawinsky an jenen 29. Mai 1913, als sein "Sacre du Printemps" in Paris mit den legendären "Ballets Russes" in der Choreografie von Waslaw Nijinsky uraufgeführt wurde. Er hatte einen der größten Theaterskandale aller Zeiten ausgelöst und zugleich den tanzhistorischen Beginn der Moderne markiert.

Einen zeitgenössischen Blick auf das "Sacre"-Motiv wirft eine Veranstaltungsreihe im Düsseldorfer Tanzhaus. Das Jahrhundertwerk hat viele Choreografen herausgefordert und im Fall von Pina Bausch oder Maurice Béjart zu Großem inspiriert. Mit der Version der Kanadierin Marie Chouinard kam 1993 ein weiterer Klassiker hinzu. Ihre eigenwillige Version, mit der ihr der internationale Durchbruch gelang, eröffnet vom 29. April bis 2. Mai den Reigen.

Der Opfer-Ritus spielt hier keine Rolle. Chouinard geht es um das Erwachen der Natur, um eine Hymne an das Leben. Strawinskys entfesselten Rhythmen schickt sie eine Toncollage von Robert Racine voraus, die das Knirschen von aufbrechendem Eis suggeriert. Auf der Bühne zittern seltsame Zwitterwesen aus Mensch und Tier vor Erwartung des Neubeginns. "Mein Sacre hat keine Geschichte", erläutert die Choreografin ihr Tanzstück. "Es geht darin um den Moment nach der Entstehung des Lebens."

Marie Chouinards Arbeiten sind bekannt für ihre Musikalität, ihre athletische Dynamik und ihre Erotik. Im zweiten Teil des Gastspiels präsentiert die 54-Jährige eine zehnminütige Solo-Version der Choreografie "L’Après-midi d’un Faune". Von der animalischen Energie des legendären Nijinsky inspiriert, führt sie ihren weiblichen Faun - und damit auch diesen mythischen Klassiker der Moderne - in die Gegenwart.

Zur Spielzeiteröffnung im September setzt das Tanzhaus seinen "Sacre"-Schwerpunkt fort. Raimund Hoghe, der Düsseldorfer Choreograf und Theatermann, stellt Strawinskys Frühlingsritual als das Duett zweier ungleicher homosexueller Männer dar. Die Algerierin Heddy Maarlem gastiert mit einem afrikanischen "Sacre". Carlotta Ikeda kommt mit einer japanischen Variante. Der Bewegungsforscher Xavier Le Roy beschäftigt sich mit der Auswirkung der ekstatischen Rhythmen auf den Körper - insbesondere den des Dirigenten.

Marie Chouinard vom 29. April bis 2.Mai im Tanzhaus NRW, Düsseldorf, Erkrather Str. 30, Karten unter Tel. 0211/17270-0

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