Ballett-Klassiker „Giselle“: Kühle Moderne statt Wald-Idylle

Die Essener Inszenierung des Ballett-Klassikers „Giselle“ ist in die heutige Zeit transferiert. Die Tänzer brillieren.

Ballett-Klassiker „Giselle“: Kühle Moderne statt Wald-Idylle
Foto: Bettina Stoess/Allto-Theater

Essen. Ach, mal wieder ein richtig klassisches Ballett, ein weißes noch dazu — mit schwebenden Ballerinen in Waldidyllen und schwirrenden Luftgeistern in Tutus. Das denken die meisten Ballettfans, wenn „Giselle“ auf dem Programm steht. Doch damit hat die neue Fassung des 1841 uraufgeführten Romantik-Klassikers in der Essener Aalto-Oper nichts zu tun.

David Dawson misstraut romantischem Zauber, nach dem sich so viele in unserer geglätteten, coolen, von Dax und Dow Jones beherrschten Welt sehnen. Eben diese Coolness bringt der britische Choreograf auf die Aalto-Bühne. Und das in einem Turbo-Tempo, das Tänzer aus Essen und aus dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ganz schön ins Schwitzen bringt.

Es ist die erste Koproduktion der beiden Tanz-Ensembles. Jedes Haus für sich allein könnte das Ballett mit seinen Gruppenszenen kaum bewältigen, weil jedes Ensemble für sich nicht genügend Tänzer hätte. Die Zusammenarbeit zwischen den Ruhr-Städten ist zukunftsweisend. Die sportliche Giselle-Deutung im Aalto war umjubelt, die Gelsenkirchener kommen in der nächsten Spielzeit in den Genuss.

Dawson räumt zunächst die Bühne auf. Er liebt weniger alten Stil mit magischen Wald- und Bauernszenen und legendären, lyrisch verzögerten Pas-de-deux. Er setzt eher auf ein Niemandsland in klinisch kühlem Weiß-Grau und auf moderne Liebes-Abenteuer einer gestressten Party-Jugend in keuchender Geschwindigkeit, die von Gruppentänzern und Solisten extreme Kondition und Präzision verlangt.

Das gelingt ihnen mit Bravour. Mit Tanz-Artistik und einem athletischen Feuerwerk verwöhnen sie in einem Pas-de-cinq. Atemberaubend dabei das Pirouettenwunder Adeline Pastor, die als Bauern-Braut mehr Technik und Balancen zeigen darf als Giselle. Unter den Männern fällt besonders Wataru Shimizu auf, der trotz mörderischen Tempos virtuose, Doppel- und Dreifach-Sprünge sauber über die Rampe bringt.

Graue Hosen, Poloshirts, Seidenkleider in eleganten Pastellfarben. Schick und lässig sind die Freunde von Giselle und Albrecht, der hier kein Traumprinz mehr, sondern ein junger Erfolgs-Typ ist. Er gehört zu einer geheimen Gang um die Barthilde, die sich durch eine Brust-Tätowierung zu erkennen gibt. Doch als sich Albrecht in Giselle verliebt, verbirgt er das verräterische Zeichen. Erst Giselles eifersüchtiger Jugendfreund Hilarion entlarvt ihn, reißt sein Hemd auf und entwendet ihm einen Dolch.

Die Dreiecksgeschichte mündet in Giselles Tod: Sie stirbt nicht an gebrochenem Herzen, sondern rennt zufällig in den Dolch, den Albert in Händen hält. Im zweiten Akt, in dem Albrecht in das Totenreich der Willis vordringt, trifft er Giselles Geist noch einmal. Doch trotz des verträumten Adagio-Sounds (überzeugend: die Bochumer Symphoniker unter Yannis Pouspourikas) haben die Totenfeen, die Wilis, kaum Zeit für geometrische Formationen. Hektisch rudern sie mit den Armen, rennen und sind permanent von Schleiern verhangen, die klassische Allüre kaum zulassen. Weicher und anrührender gelingt der finale Liebes-Pas-de-deux mit seinen über den Boden schleifenden Hebefiguren und Todesspiralen, die manchmal an Eiskunstlauf erinnern.

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