Wolfgang Ruges Erinnerungen an die Stalin-Zeit

Berlin (dpa) - „Gelobtes Land“ ist die dokumentarische Vorgeschichte von Eugen Ruges Romanerfolg „In Zeiten des abnehmenden Lichts“: Ein deutscher Jungkommunist flieht vor der Nazi-Barbarei in Stalins „gelobtes Land“.

Doch er kommt vom Regen in die Traufe.

„Wir waren immer Hitlergegner, auch als alle den Hitler-Stalin-Pakt bejubelt haben“, sagt einer seiner Freunde. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 habe er sich alles vorstellen können, „nur das hier nicht“. Gemeint sind Verfolgung, Inhaftierung und menschenverachtender Lageralltag für zahlreiche aus Deutschland stammende Kommunisten. Nach der Hetzjagd in der Heimat mussten sie in der Sowjetunion einen neuen Leidensweg antreten.

Der spätere renommierte DDR-Historiker Wolfgang Ruge, Vater des Deutschen Buchpreisträgers Eugen Ruge, hat diese Odyssee - 15 Jahre Haft in der sibirischen Taiga bis zu seiner Ausreise 1956 in die DDR - aufgezeichnet und seinem Sohn als Vermächtnis hinterlassen. Der Text wurde in der DDR nie veröffentlicht und erst 2003 im Bonner Pahl-Rugenstein Verlag herausgegeben, „ohne dass ich ihn vorher zu Gesicht bekomme, mit all seinen Unzulänglichkeiten“, schreibt Eugen Ruge jetzt in seinem Nachwort zur Neuausgabe. Sein 2006 gestorbener Vater war zuletzt an Demenz erkrankt, der einstige Freundeskreis zerstreute sich und Wolfgang Ruge begann, „politisch zu vereinsamen“, erinnert sich sein Sohn.

„Aus solchen und anderen Gründen schien mir eine sorgfältig überarbeitete Neuauflage dieses im Kern großartigen, wichtigen und in seiner Art einmaligen Buches nötig.“ Es sei ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Leidens- und Lebensfähigkeit und zugleich ein „außergewöhnliches Zeitdokument, das Verbannung und Zwangsarbeit in der Sowjetunion aus der Perspektive eines deutschen Kommunisten beschreibt“.

Aber auch aus der Perspektive eines Bildungsbürgers im nackten Existenzkampf ums tägliche Überleben, der von den Holzfällern in seinem Arbeitstrupp als „Intellektuellenfratze“ verspottet wird. „Als nicht dazugehörig werde ich von den meisten schon deshalb eingestuft, weil ich Teile meiner Freizeit mit Lesen verbringe.“ Beim Beginn der Deportation hatte Ruge in aller Eile ein altes Lateinlehrbuch und Goethes „Faust“ eingepackt.

Die detaillierten Aufzeichnungen seines Vaters erinnern an die Schreckens- und Irrwege eines Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen im Dreißigjährigen Krieg, vor allem aber rufen sie die epochenmachenden Bücher über die sowjetischen Schreckenslager von Alexander Solschenizyn, „Archipel Gulag“ und „Ein Tag im Leben des Iwan Dennissowitsch“ in Erinnerung. „Wen der Frost übrig ließ, raffte der Typhus hinweg, es gab weder Waschgelegenheiten noch Medikamente“, schreibt Wolfgang Ruge über seinen Lageralltag in der „Siedlung Nr. 11“ im Nord-Ural, einem Lagergebiet so groß wie Niedersachsen in der russischen Steppe.

Der Unterschied von 300 oder 500 Gramm als tägliche Brotration wird zur nackten Existenzfrage. „Als es endlich Frühjahr wurde, waren von den 11 000 Bewohnern der Siedlung noch ganze 1000 am Leben.“ Bei minus 40 Grad friert Ruge mit den Haaren oder seinen Sachen an der Bretterwand fest. Nach Bertolt Brechts Devise „Erst kommt das Fressen und dann die Moral“ heißt es hier: „Lieber als Schweinehund überleben als als ehrenwerter Mann krepieren - ich gestehe mir ein, kein Deut besser zu sein als die anderen“, notiert Ruge. Eine Schreckensstarre erfasst den Leser schon bei der Beschreibung der schier endlosen Tag- und Nacht-Fahrten mit den Deportationszügen in Viehwaggons durch die Weiten Russlands, mehr als 20 Tage lang. Ihnen entgegen kommen Truppentransporte, Panzer, Geschütze, Soldaten.

Frösteln lässt auch das Kapitel Ruges über seine erste Zeit in Moskau in den 30er Jahren, als Stalins Terror auch unter parteitreuen Genossen wütet und die Schauprozesse beginnen. Niemand ist sich seines Lebens mehr sicher, auch wenn er vorher in angesehener Stellung war. Von einem Tag zum anderen ist man plötzlich ein „Verräter“, Freunde werden über Nacht ohne Gerichtsverfahren erschossen. Ruge erinnert sich: „Eine Genossin, die ich noch aus Berlin kannte, grüßte mich kaum.“

Darüber hat Wolfgang Ruge eine erschütternde Lebensbilanz als Traumabewältigung geschrieben, die sein 1954 in der sowjetischen Verbannung geborener Sohn als eine Art Trauerarbeit jetzt neu herausgegeben hat. Es ist ein bemerkenswertes zeithistorisches Dokument voller Menschlichkeit und Verzweiflung. Ein Buch, das eindeutig zum besseren Verständnis des späteren Bestsellererfolges seines Sohnes Eugen Ruge beiträgt.

Wolfgang Ruge: Gelobtes Land - Meine Jahre in Stalins Sowjetunion, herausgegeben von Eugen Ruge, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 490 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-498-05791-6

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