Der Rückspiegler Stuckrad-Barre kramt in der Nostalgie-Kiste

Berlin (dpa) - Erinnert sich noch jemand an Jürgen Fliege? Den oft moralisierenden Fernsehpfarrer, der nach seiner TV-Karriere wegen Geschäften mit esoterischen Produkten in die Kritik geriet. Nein?

Der Rückspiegler: Stuckrad-Barre kramt in der Nostalgie-Kiste
Foto: dpa

Benjamin von Stuckrad-Barre schon. 2011 verbringt der wohl bekannteste Popliterat Deutschlands einen Tag mit dem „Margot Käßmann der 90er Jahre“, wie er schreibt. Den Besuch, bei dem er Fliege beinahe eine seiner „bereitliegenden Broschüren in den frömmelnden Mund“ stopfen will, strickt er seinerzeit zum Text.

Fliege, Käßmann - beide sind mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Doch in Stuckrad-Barres neuem Buch „Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen“ tauchen sie wieder auf. In eben jenem Text von 2011, der hier neben zwei Dutzend anderen Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften versammelt ist. Es ist das dritte Album der „Remix“-Reihe, die 1999 begann und 2004 mit „Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft“ ihre Fortsetzung fand.

Stuckrad-Barre bereist eine jüngst vergangene Gegenwart, die kurz vor ihrem Absturz ins Vergessen steht. Was war gleich das Besondere an den einstmals zum Politik-Glamourpaar gehypten Guttenbergs? „Ein bisschen strahlen sie aus, dass es ein Gnadenakt ist, sich mit uns hienieden abzugeben“, schreibt er. Sie seien der Gegenentwurf einer „Politikbetriebsnudel wie Birgit Homburger“. Birgit wer? FDP-Wähler, nicht vorsagen! Es ist eben bereits mehr als eine Legislaturperiode her, dass man von diesen Namen etwas Nennenswertes gehört hat.

„Remix 3“ kramt also ein wenig in der noch jungen Nostalgie-Kiste mit Promis und Semi-Promis. Der zeitliche Abstand ist noch nicht ausreichend lang, um abschließend die wirklich wichtigen von den absolut irrelevanten zu trennen - und noch zu kurz, dass sich hätte schon der Mantel des Vergessens vollends über sie hätte legen können. Er zeigt: Geschichte kann einen immer wieder einholen.

Eines eint die Texte in „Ich glaub, mir geht's nicht so gut...“. Es geht oft um zwei Promis - den Porträtierten und Stuckrad-Barre. Alles, was der Autor über seinen Protagonisten schreibt, spiegelt unweigerlich auf ihn selbst zurück. Objektiv ist sein Schreiben nicht. Ist es nie gewesen. Aber das ist so eingepreist.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich das bei der Geschichte im Hause Boris Becker. Gemeinsam mit dem Tennis-Urgestein schaut Stuckrad-Barre 25 Jahre nach dem legendären Sieg noch einmal das Wimbledon-Finale von 1985 - auf Beckers Rasen sozusagen, nämlich am Fernseher in dessen Londoner Wohnung. Geerdet wird die Story von Beckers Ehefrau Lilly. Zum ersten Mal sehe sie das „Spiel aller Spiele“, heißt es, „höflich interessiert, mehr nicht“. Gerade sie erscheint als Antipode zu Stuckrad-Barre. Sie ist weder Tennis- noch Becker-Groupie - er kommt hingegen nur zu dem Schluss, Becker sei: „ein Held“. Als hätte es Steuer- und Finanzfragen nie gegeben.

Was man durch „Remix 3“ lernt? Dass Stuckrad-Barre eigentlich ein Nah-dran-Schreiber ist. Dem besten Text fehlt jegliche ironische Distanz. In „Tattoos“ geht es um die Liebe, die wie die Tinte unter die Haut geht: „Wir schauten hinein in uns, schlossen die Augen, der andere machte jeweils Fotos von dem, der gerade dran war, und auf den Fotos lachen wir die ganze Zeit.“ Hier zeigt Stuckrad-Barre, was literarisch alles in ihm steckt. Ein Juwel von einem Text.

Vor zwei Jahren meldete sich der Popliterat mit seinem erfolgreichen Autobiografie „Panikherz“ zurück auf der großen Literaturbühne. Es war eine öffentliche Selbstfiletierung. Mit dem dritten „Remix“-Band zeigt er nun, wie präzise er noch immer hinzuschauen vermag - auf das, was alle glauben, selbst sowieso schon gesehen zu haben (aber es in Wahrheit nie taten). Ja, Stuckrad-Barre ist ein Chronist, der mit seinen Artikeln die Vergangenheit ausleuchtet. Wie lange diese kleinen Fenster Bestand haben, wird aber erst die Zukunft zeigen.

Benjamin von Stuckrad-Barre: „Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen“, Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 20,00 Euro, 978-3-462-05181-0

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