Pankaj Mishra fordert die westliche Tradition heraus

Neu Delhi/Leipzig (dpa) - Für Europäer ist das 20. Jahrhundert definiert durch zwei Kriege und das atomare Patt. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung ist das zentrale Ereignis aber das Erwachen Asiens.

Für seine Studie darüber wurde Pankaj Mishra der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung zugesprochen.

Der indische Publizist Pankaj Mishra stellt die im Westen tradierte Sicht auf Asien infrage: Dass der europäische Imperialismus möglich war, weil Ägypten, China und Indien stagnierten oder sogar zerfielen. Dass diese „Untertanenvölker“ unfähig waren, sich selbst zu regieren, wie westliche Denker von Hegel über Marx bis John Stuart Mill erklärten. „Ich wollte diese Geschichtsschreibungen durchstechen“, sagte Mishra der Nachrichtenagentur dpa.

In seinem grundlegenden, doch mit leichter Hand erzählten Werk „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ beschreibt Mishra, wie die europäische Herrschaft über Asien durch neue Technologien, überlegene Informationsbeschaffung und Handelsvorzüge zustande kam. Und auch, wie Asien schließlich die modernen Ideen, Techniken und Institutionen — „die "Geheimnisse" der westlichen Macht“ - absorbierte und gegen die westliche Welt wandte. Dafür wurde ihm der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014 zugesprochen.

Mishra, 1969 im Norden Indiens geboren, verliebte sich schnell in Bücher. „Lesen bereitete mir so viel Vergnügen, dass ich damals meinte, ich könnte dieses Leben vielleicht unbegrenzt fortsetzen“, sagte er einmal. „Und, auf wundersame Weise, stoppte mich niemand.“ Während er Wirtschaftswissenschaften in Allahabad und Englische Literatur in Neu Delhi studierte, brachte er sich nebenbei das Schreiben bei. Er begann, literarische Essays, Rezensionen und Romane zu veröffentlichen.

Heute lebt er in London und schreibt meist keine fiktionalen Werke mehr, dafür mehr Reiseliteratur und historische Werke, allerdings oft verwoben mit philosophischen Fragen. „Ich bin kein ausgebildeter Historiker, kein Wissenschaftler. Ich begreife mich selbst als einen Prosa-Autor, der mit verschiedenen Formen arbeitet“, sagt Mishra. Das erzählende Schreiben, ob literarisch oder historisch, lehrte er auch als Gastprofessor am Wellesley College in den USA und am University College in London.

In dem nun preisgekrönten Werk, das Kritiker als „wahnsinnig ehrgeizig“, „provokant“ und „bahnbrechend“ beschreiben, blickt Mishra durch die Augen weniger bekannter Denker und Akteure auf den Erneuerungsprozess in Asien. „Ich denke, dass ihr Leben, ihre Ideen und ihre Reisen uns viel mehr sagen können als die großen Bahnen und Lebenswege der sehr bekannten Menschen wie Mahatma Gandhi oder Mao Zedong.“ Der Leser könne für diese vielfältigen Figuren wie in einem Roman Empathie entwickeln, weil sie in existenziellen Situationen beschrieben werden.

Doch sei das Buch, von Mishra beschrieben als „teils historischer Essay, teils intellektuelle Biographie“, nicht nur für Leser in Europa oder den USA bestimmt. Auch in Indien etwa werde eine parteiische Geschichtsschreibung gelehrt, die gut noch weitere Blickwinkel und Analysen vertrage, meint Mishra. „Menschen wie (der bengalische Dichter und Philosoph Rabindranath) Tagore etwa pflegten Freundschaften mit Menschen in Kairo und Tokio und Shanghai, doch diese Zeit des Weltbürgertums wird heute durch die nationalistischen Historien unterdrückt“, beklagt er.

Der Westen stecke mittlerweile tief in der Krise, und er tue gut daran, auf den Osten zu schauen, wo sich neue Perspektiven eröffnen könnten, meint er. „Es ist jetzt an der Zeit, einige der politischen, philosophischen und literarischen Traditionen wieder zu entdecken, die für etwa 150 Jahre entweder ignoriert oder vernachlässigt wurden, sei es nun in China, Indien oder Japan.“

Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, S. Fischer Verlag, aus dem Englischen von Michael Bischoff, 448 S., 26,99 Euro, ISBN 978-3-10-048838-1

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