NS-Geschichte: Ian Kershaw über „Das Ende“

Berlin (dpa) - Deutschlands Zusammenbruch 1945 war komplett: Millionen Tote auf den Schlachtfeldern und im Bombenkrieg, die Städte in Trümmern, die Industrie am Boden, die Gesellschaft moralisch abgewirtschaftet.

Kaum je in der Geschichte der Menschheit gab es eine vollständigere Niederlage, denn kaum je hielten ein Regime und ein Volk so bis zum bitteren Ende durch. Das Dritte Reich brach erst zusammen, als es militärisch geschlagen war. Das ist historisch gesehen ein Extremfall.

In der Regel enden Kriege damit, dass der unterlegene Staat verhandelt und um Frieden nachsucht. Oder eine Regierung wird von den eigenen Leuten beziehungsweise innenpolitischen Gegnern gestürzt, die dann den Krieg beenden. All dies jedoch war hier nicht der Fall. Warum?

Dieser Frage geht der renommierte britische Historiker Ian Kershaw in seinem neuen Buch „Das Ende“ nach. Kershaw, einer der besten Kenner der NS-Geschichte, ist vor allem durch seine zweibändige Hitler-Biografie bekanntgeworden. Es ist schon erstaunlich: Es gibt eine unendliche Zahl von Büchern, die sich mit dem Kriegsende und Deutschlands Zusammenbruch befassen, unter anderem das bekannte Werk von Joachim Fest „Der Untergang“. Aber kaum eines suchte bisher im Detail zu ergründen, warum Deutschland bis zur Selbstzerstörung kämpfte. Diese Lücke wird nun von Kershaw gefüllt.

„Das Ende“ erzählt die letzten Monate des Dritten Reichs, beginnend mit dem Attentat des 20. Juli 1944 bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945. Kershaw schildert, wie mit der dramatischen Verschlechterung der Kriegslage an allen Fronten und dem verheerenden Bombenkrieg in der Heimat auch der Glaube der meisten Deutschen an Hitler dahinschwand. Damit widerspricht er jenen Historikern, die die Meinung vertreten, die Deutschen hätten bis zuletzt unter dem Banne des „Führers“ gestanden.

Warum aber hielten sie dann so lange durch, selbst in dem Wissen, dass der Krieg verloren war? Zum Teil war es blindes Funktionieren, angelerntes Pflichtbewusstsein, das Kershaw auch den Soldaten attestiert. Etwa nach dem Motto: Deutschland lässt man nicht im Stich. Zum anderen aber war es nackte Angst. In keiner Phase der NS-Herrschaft nämlich waren Willkürjustiz und Terror so präsent wie in den letzten Kriegsmonaten. Kershaw schildert zahlreiche traurige Beispiele, wie sich Parteifunktionäre noch in letzter Minute unbequemer Regimegegner entledigten. Menschen, die ihre Heimatstädte kampflos übergeben wollten, wurden manchmal nur einen Tag vor Einmarsch der Alliierten aufgehängt.

Dass von Hitler kein Nachgeben zu erwarten war, versteht sich von selbst. Seiner Ansicht nach durfte es keine „feige“ Kapitulation wie 1918 geben, dann lieber ein „heldenhafter“ Untergang. Sein Schicksal war so oder so besiegelt. Weniger verständlich bleibt, warum fast alle Generäle und seine Entourage bis zum völligen Zusammenbruch mitmachten. Nicht wenige Generäle attestierten Hitler als Oberbefehlshaber krasse Fehlentscheidungen, sahen die Niederlage voraus.

Trotzdem machten sie weiter, oft aus Feigheit und liebedienerischer Loyalität sowie einem verqueren militärischen Pflichtbewusstsein. In der engsten Clique um Hitler herum setzten sich Himmler und Speer erst in allerletzter Minute ab. Aber da die „Paladine“ untereinander zerstritten waren, kam es zu keiner Verständigung. Im Übrigen hatte Speer als Rüstungsminister mit seinem organisatorischen Geschick nicht unerheblich zur Kriegsverlängerung beigetragen.

Eine ebenso falsch verstandene Pflichtauffassung wie die Generäle hatten viele Beamte: Der „gut organisierte, erfahrene bürokratische Apparat“ blieb bis zuletzt eine loyale Stütze des Regimes und zeigte Beispiele von absurdem Fleiß: Während etwa München in Schutt und Asche lag, verbrauchten Beamte Zeit, Kraft und kostbares Papier, um auf dem Dienstweg fünf Aufwischeimer zu organisieren, die bei einem Luftangriff verloren gegangen waren. Schlimmer war, dass auch die Justiz noch bis zuletzt funktionierte und drakonische Strafen verhängte.

Kershaw erklärt den Drang zur Selbstzerstörung schlüssig durch die Struktur nationalsozialistischer Herrschaft und die ihr zugrundeliegende Mentalität der Nibelungentreue. Mit seinem Buch hat er ein wichtiges Thema aufgegriffen und es gut lesbar und spannend aufbereitet. Besonders anschaulich wird es durch die Heranziehung persönlicher Erfahrungsberichte und Tagebücher.

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45. DVA, München, 704 Seiten, 29,99 Euro, ISBN 978-3-421-05807-2

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