Meine Helden aus dem Osten - ein Autor erinnert sich

Dienstagabend zeigt die ARD den Dokumentarfilm „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“.

Herr Precht, SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier erklärte auf dem Sonderparteitag in Berlin, Ihr Bestseller "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" sei das Kursbuch für Angela Merkel und Horst Seehofer. Was hat das zu bedeuten, wenn die SPD nicht mehr Brecht, sondern Precht zitiert?

Precht: Ich glaube leider, dass die SPD ideologisch so heimatlos geworden ist, dass sie sich jedes Jahr etwas Neues sucht.

Precht: Meine Eltern waren nicht in der DKP, aber sie hatten eine tief sitzende Verachtung für die SPD. Für mich lag "links" jenseits der Sozialdemokratie. In meiner kindlichen Wahrnehmung war Helmut Schmidt ein Rechter.

Precht: Unbedingt. Vor allem mit dem Gefühl, sich zu den moralisch Guten zählen zu können. Die Linken waren die Zukunft, die Rechten die Vergangenheit. Für mich war auch alles tabu, was aus Amerika kam. Ich habe deshalb meine Helden im Osten gesucht und als Kind die DDR noch viel stärker verklärt als meine Eltern.

Precht: Nein. Ich hatte eine glückliche Kindheit, nur meine Pubertät war besonders finster, was auch an meiner starken Kurzsichtigkeit und meinem späten Wachstum lag. Meinen Eltern kann man vorwerfen, dass sie mich als 16-Jährigen mit einem Taschengeld von 20 Mark ausgestattet haben, wovon ich mir meine Klamotten selber kaufen durfte. Und wenn ich dann nichts zum Anziehen hatte, wurden die Flohmarktkisten aufgemacht. Es gibt kein Mädchen in dem Alter, das so heroisch ist, dass es darüber hinweggucken kann.

Precht: Ja, sehr. Ich lebe in einer Patchwork-Familie und sehe darin auch prinzipiell keinen Unterschied zu anderen Familien. Ich habe ein bisschen Angst vor den Ein-Kind-Familien, ich halte das nicht für artgerechte Haltung. Jedenfalls freue ich mich, dass mein Sohn drei Stiefgeschwister hat und auf diese Weise großfamiliäre Strukturen kennenlernt.

Precht: Der Ursprung der modernen Aufklärungs-Philosophie bestand in der Idee der Volksbildung. In Wirklichkeit haben sich die Philosophen längst in die Elfenbeintürme der Universitäten zurückgezogen. Die Universitäten haben auf das Buch "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" ein Jahr lang gar nicht reagiert, jetzt bekomme ich in großer Zahl Einladungen. Ich habe das Gefühl, dass es gerade unter jüngeren Professoren eine Aufbruchbewegung gibt.

Precht: In sehr eingeschränktem Maße. Wenn man in einer Talkshow sitzt, kann man fünf Mal in einer Stunde etwas sagen. Aber wir machen für das ZDF eine neue Sendung, die vermutlich im Januar startet, in der der Volksbildungscharakter eine große Rolle spielt. Und ab Herbst erkläre ich für die Sendung "Westart" im WDR-Fernsehen philosophische Probleme in drei Minuten. Zum Beispiel: Macht das Besitzen von Eigentum glücklich oder nur das Erwerben?

Precht: Ich arbeite an einem Buch über Ethik, das sich auch mit konkreten Fragen der Gegenwart beschäftigt.

Precht: Wir könnten unser Primatenverhalten besser verstehen. Zum Beispiel, dass wir, moralisch gesehen, nur der Horde verpflichtet sind, in der wir uns bewegen. Das heißt: Einem Banker kann man nicht vorwerfen, dass er nicht im Interesse der Menschheit gehandelt hat, sondern man muss schlaue Regeln erfinden, die Missbrauch unmöglich machen. Es macht keinen Sinn, die Moralkeule zu schwingen. Man kann nicht Gier auf der einen Seite anprangern und auf der anderen Seite eine Abwrackprämie einführen und die Gier auf Neuwagen schüren - das ist an Perversion kaum noch zu überbieten.

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