Günter Grass: Protokoll eines Besserwissers

Am Donnerstag kommt das Wende- und Kriegstagebuch in den Handel.

Düsseldorf. Literaturnobelpreisträger Günter Grass (81) lässt immer wieder von sich hören, und dass nach der "Box" nun auch noch sein Tagebuch über den Mauerfall und seine Folgen sowie über den Irakkrieg folgen würde, war eigentlich absehbar.

Aber der Titel führt ein wenig in die Irre: Erstens reist Grass keineswegs "Von Deutschland nach Deutschland", befindet sich zunächst, am 1. Januar 1990, in seinem idyllischen portugiesischen Domizil Vale des Eiras und pflanzt im Garten ein Bäumchen.

Dort und in Behlendorf endet das Tagebuch im Januar 1991, wenn der Irak-Krieg in vollem Gang ist.

So enthält das Tagebuch denn auch zahlreiche Notizen zu öffentlichen Reden oder vorbereitende Ausführungen, etwa wenn es um die staatspolitische Form der "Abwicklung" der Teilrepublik ging.

Das Procedere des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl war ihm das böse, fatale Wort "Anschluss" wert, und er attestiert der Bundesrepublik die Eigenschaften früherer Kolonialherren und zieht sich so den Zorn manches Bürgers zu, die ihn nun, ganz wie einst gegenüber Herbert Wehner oder Willy Brandt, "Vaterlandsverräter" schimpfen.

Dabei lag im Nachhinein Günter Grass in seinen Prophetien gar nicht falsch: Werde der Prozess der Einigung zu rasch vollzogen und das Geld Eins zu eins eingetauscht, drohe ein sofortiger wirtschaftlicher Zusammenbruch der DDR, verbunden mit einem hohen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Grass war ein Freund der staatspolitischen Form eines Staatenbundes. Er befürwortet eine neue Verfassung, über die die Menschen beider Staaten abstimmen sollten. Seine Ratschläge wirken indes eher wie Standpauken eines beleidigten Besserwissers, den nur niemand anhört.

Aber Grass wollte sich auch als Sprachrohr der "Ossis" verstanden wissen und reiste etwa zu den deprimierenden ausgeräumten Braunkohltagebauen - die er wie viele Motive hier zeichnet, und womöglich sind die Heuschrecken auf dem Cover ja eine Hommage an Müntefering -, er hält Lesungen, kommt ins Gespräch.

Und einmal, am 2. März in Dresden-Radebeul, notiert er mit hellsichtigem Blick und deutlicher Empfindung für Stimmungen eine "nun unverbraucht und offen zutage tretende rechte Mentalität, die sich nationalistisch, fremdenfeindlich, antisemitisch, vulgär-materialistisch und insgesamt intolerant ausspricht".

Das Tagebuch ist zugleich eine Art fortlaufender Werkstattbericht des Schriftstellers und Malers: 1990 entwickelte er das Konzept für die Novelle "Unkenrufe" (1992).

In der Nacht zum 3. Dezember 1990, nach der Bundestagswahl mit dem Sieg der CDU, fand Grass zum Exposé für seinen Berlin-Fontane-Wiedervereinigungsroman "Ein weites Feld".

Neben Politik und künstlerischem Werk bildet die große Patchwork- Familie (vier Frauen, acht Kinder) die dritte Säule im Leben von Grass, der sich so gerne als Patriarch sehen möchte. Hier fällt es Grass schwer, wie er bekennt, Intimes zu sagen - auch aus Sorge um die Familienbalance.

Dennoch berichtet Grass humorvoll-kritisch über die Seinen und findet zärtliche Formulierungen, wenn es um seine Töchter geht. Wer Grass über die Jahre begleitet hat, findet hier weder einen neuen Ton noch Inhalt.

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