Die Ur-Pippi: Agressiv, gemein und taktlos

Kinderbuch: Astrid Lindgrens Manuskript wurde einst abgelehnt. Am Mittwoch erscheint das Original.

Hamburg. Zu ihrem 10. Geburtstag, am 21. Mai 1944, erhält Karin Lindgren ein Buch. Es ist mit der Maschine geschrieben, und auf der Titelseite steht zu lesen: "Das Buch von Pippi Langstrumpf, niedergeschrieben für meine Tochter Karin von ihrer Mutter."

Darunter winkt ein Mädchen mit abstehenden, orange-roten Zöpfen. Damals wurde das Gör, dem die Lindgren-Kinder und deren Freunde bislang in abendlichen Erzählungen begegnet waren, erstmals zwischen Buchdeckel gezwängt. Dieses Originalmanuskript war es auch, das ein Verlag ablehnte. "Pippi Langstrumpf" musste reifen, bevor sie ein Jahr später bei "Raben & Sjögren" in Stockholm gedruckt wurde.

Mit "Ur-Pippi" erscheint zum heutigen 100. Geburtstag Astrid Lindgrens erstmals die ursprüngliche Fassung des bekanntesten Kinderbuchs der Welt. Der Band, erhellend kommentiert von Ulla Lundqvist, ist eine interessante Lektüre, ja, ein Zeitdokument, welches Rückschlüsse auf die Befindlichkeit der 35-jährigen Autorin zulässt. All ihren Zorn auf eine Gesellschaft, die sich an die Balken von Zucht und Ordnung klammerte und ihre Kinder mit Schlägen disziplinierte, entlud sie in der Fantasiefigur mit übermenschlichen Kräften.

Aggressiv, schrill, gemein, taktlos, ja kränkend, gebärdet sich die unzensierte Pippi, von Erwachsenen beschimpft als "Untier". Etwa vierzig Prozent des Textes musste Lindgren abmildernd umarbeiten, aber auch stilistisch verfeinern und sprachlich dem kindlichen Verständnisniveau anpassen.

So im zweiten Kapitel, wenn Pippi, Tommy und Annika auf den bösen Bengt und seine Freunde treffen, die den kleinen Ville verprügeln. In der "Ur-Pippi" schwingt der Rotschopf sich nicht zur Anwältin des Schwächeren auf. Ville kommt gar nicht vor, dafür aber der Vater von Pippis Provokateur. Er versetzt ihr eine Ohrfeige. Daraufhin demütigt sie ihn, wie treue Lindgren-Leser es nicht vermutet hätten. "Du hast ja einen prima Griff mitten im Gesicht!", stellt Pippi fest, packt ihn an der Nase und zieht ihn zu einem "Spaziergang" hinter sich her. Dann lässt sie Fredriksson, "blass vor Wut", nach Hause stürmen - und ruft ihm noch spöttische Worte hinterher.

Dem dritten Kapitel, "Pippi spielt Fangen mit Polizisten", geht in der Urfassung eine Episode voraus, in der "zwei Personen" Pippi mitteilen, dass sie ins Kinderheim müsse. Wieder höhnische Überlegenheit bei den Erwachsenen: "Haben Sie die Haare von diesem armen Kind gesehen, Fräulein Blomkvist? Vielleicht wird es hübscher, wenn es älter wird, aber im Augenblick ist es wahrhaftig nicht hübsch", so der glatzköpfige Herr Lundin. Pippi, auf gleicher Ebene: "Ich frage mich, welche Farbe deine Haare hatten, als du noch welche hattest. Wahrscheinlich waren sie blau - wie mag das zu deiner roten Nase gepasst haben?"

Ur-Pippis Humor ist pädagogisch wenig wertvoll: Kränkung auf Kosten von Äußerlichkeiten, auch Analkomik, Anzüglichkeiten (Alkohol, Tabak und Hausmädchen-Sexualität). 1945 ist "Pippi Langstrumpf" zwar nicht salonfähig, aber charakterfest: von einer warmherzigen Güte, kindlichen Souveränität und Weisheit, die ihr beinahe mystische Züge verleihen. Und so lieben wir sie.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort