Christine Nöstlinger: „Erziehung bringt nichts“

Düsseldorf. Die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger spricht im Interview über arme Kinder und arme reiche Kinder und darüber, wie sich die Kindheit verändert.

Nöstlinger: Ich verwahre mich immer dagegen, Kinder im Allgemeinen zu sagen. Das ist schon ein sehr schichtspezifisches Problem. Es gibt sicher eine Schicht von Kindern, die bei halbwegs wohlhabenden Eltern mit liberaler Gesinnung aufwachsen, die für die Kinder alles tun. In der Schicht geht es Kindern sagenhaft besser als früher. Aber es gibt jede Menge Unterschichtkinder, denen es schlechter geht als früher. Die Schere geht von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr auf.

Hat sich Kindheit verändert?

Nöstlinger: Ein gewisses Manko haben alle Kinder heutzutage, was Freiheit betrifft. Als ich ein Kind war, konnte ich jeden Tag im Alter von sechs, sieben Jahren in der Gegend herumstrolchen und bin halt immer ein bisserl zu spät zurückgekehrt. Da ist man schon ein wenig geschimpft worden, aber es war nicht diese Angst da, die wir heute haben.

Manche Kinder werden heute sehr früh sehr stark gefördert. Bekommen sie zu viel Aufmerksamkeit?

Nöstlinger: Ich finde es manchmal lächerlich, dass jeder zweite Mensch heute angeblich ein hochbegabtes Kind hat. Das ist ja absurd. Und kaum hat eines Lernschwierigkeiten und stammt aus einem „besseren“ Haus, dann hat es keine Lernschwierigkeiten mehr, sondern ist hochbegabt und langweilt sich in der Schule. Viele Mütter werden auch wieder zu Hausfrauenmüttern. Sind zwar gut ausgebildet und haben einen Beruf, , widmen sich aber nur ihrem Kind. Dann investiert man natürlich Erfolgswünsche in dieses Kind, die es wahrscheinlich sehr oft überfordern.

Diese Kinder tun Ihnen leid?

Nöstlinger: Ja, sie tun mir leid. So ein Kind, das zum Reiten geschickt wird, das mit drei Sprachen aufwächst und dazu noch Chinesisch lernt — dieses Kind tut mir von Herzen leid. Aber eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, wie es in dem Kind zugeht. Das ist mir verschlossen, denn ich stand als Kind nie unter einem Leistungsdruck.

Waren Sie eine strenge Mutter?

Nöstlinger: Nein. Ich habe meine zwei Töchter nie erzogen. So etwas wie Erziehung kommt für mich nicht infrage. Es gibt sicherlich eine gewisse Begleitung, es gibt Dinge, die Kinder einfach tun müssen. Wenn sie 40 Fieber haben, müssen sie ein Pulver schlucken. Aber ansonsten habe ich meine Kinder nicht erzogen. Ich glaube, es war Karl Valentin, der den Satz sagte „Mei, was hilft die ganze Erziehung, die Kinder machen einem eh alles nach.“ Man kann predigen, was man will — ich habe nie gepredigt — , aber die Kinder verhalten sich sehr nach den Mustern, die ihnen ihre Bezugspersonen vorleben.

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