TV-Serie 30 Jahre Lindenstraße: Serie ohne Ende
Warum läuft eine sozio-kritische Telenovela seit 30 Jahren? Der Erklärungsversuch eines Stammguckers.
Köln. Wissen Sie noch, was Sie am 8. Dezember 1985 um 18.40 Uhr gemacht haben? Der Autor dieser Zeilen saß als 14-Jähriger erwartungsfroh vor dem Fernseher. Denn die ARD hatte ihren Zuschauern etwas Großes versprochen. Quasi eine telegene Antwort auf die Schwarzwaldklinik, die dem ZDF seit Oktober 1985 Traumquoten bescherte. Doch welch ein Elend: Wo sich im hübschen Glottertal alles um kleine Wehwehchen und große Liebesdramen drehte, gab es in der Lindenstraße bloß Tristesse.
Die Handlung spielte in miefigen Mietskasernen statt in schmucken Schwarzwaldhäusern. Statt einer prominenten Schauspielerriege standen teils Anfänger vor der Kamera. Und statt gefühlsduseliger Hochglanz-Szenen gab es bloß Holperdialoge in schlecht ausgeleuchteter Treppenhauskulisse. Die Kritiker waren sich einig: Das ist nichts und das wird nichts.
Dass die Fließbandserie ihren Start überlebte, war das erste Wunder in der 30-jährigen Seriengeschichte. Bis zu 15 Millionen Zuschauer schalteten sich Woche für Woche zu. Weil es nichts anderes gab. Und weil die Serie etwas bot, was es sonst nicht gab: die Simulation, man könne ungeniert und -begrenzt in die Wohn- und Schlafzimmer der eigenen Nachbarn schauen. Dieser Schlüssellocheffekt wurde durch einen Kunstgriff verstärkt: Immer wieder gab und gibt es Szenen mit tagesaktuellem Bezug, erst kurz vor Ausstrahlung gedreht. Dadurch wirkt die Serie gegenwärtig. Umgekehrt wurden auch immer wieder Handlungselemente in die Realität verlängert, etwa Anti-Atom-Proteste oder die ironische Wahl-Kampagne „Wählt Gung!“. Konzeptionell ist die Lindenstraße der fiktive Antagonist heutiger Reality-Soaps.
Und das ist das zweite Wunder dieser Seriengeschichte: dass die Lindenstraße ihr Ende noch nicht erlebt hat. Denn das Internet hat längst viel vom früheren Reiz kannibalisiert. Heute stellen echte Menschen ihr echtes Leben ins Internet. Sozial-Voyeure brauchen keine Serien-Fiktion mehr. Abgesehen von Hans W. Geißendörfers gesellschaftskritischen Botschaften funktioniert die Lindenstraße heutzutage deshalb eher wie eine handelsübliche Telenovela. Was ihr einen nennenswerten Anteil junger Zuschauer eingebracht hat — was bei der ARD eine Art Lebensversicherung bedeutet.
Spötter mögen meinen: Die Lindenstraße laufe nur noch, weil es sie schon so lange gibt. Das mag ein Teil der Wahrheit sein. Wer als heute 44-Jähriger auf die vergangenen 30 Jahre zurückschaut, sieht nicht nur sich gealtert, sondern auch die Schauspieler. Zehn sind von Anfang an dabei, viele seit mehr als 20 Jahren. So wird das sonntägliche Lindenstraßen-Gucken zu einem Wiedersehen mit gefühlter Familie. Das wird nicht verstehen, wer nicht regelmäßig dabei ist. Wer seit 30 Jahren guckt, wird es nicht mehr lassen.