Kirchentags-Blog: Die letzten Zeugen

Hamburg. Mag sein, es war der bewegendste Applaus auf dem Kirchentag. Nicht jubelnd, schon gar nicht begeistert. Zurückhaltend beginnt das Klatschen, als schäme es sich, die Stille zu durchbrechen.

Aber dann will es gar nicht mehr enden. Die Menschen im Hörsaal A der Hamburger Universität erheben sich. Und der alte Mann vorne auf der Bühne legt bescheiden die rechte Hand auf die Brust und verneigt sich leicht zum Dank.

Als kleiner Junge überlebte Michael Goldmann-Gilead 80 Gürtelschläge eines Nazischergen. An seinem 17. Geburtstag sah er seine Eltern und seine kleine Schwester zum letzten Mal. Sie zählen zu den über 40 Familienangehörigen, die im Holocaust ermordet wurden. Jetzt ist er 88 Jahre alt - und einer der letzten Zeitzeugen, die noch Auskunft geben können über das Grauen der Nazizeit.

Der in Kattowitz (Oberschlesien) geborene Jude war 1960 einer der Polizeioffiziere, die die neun Monate dauernde Vernehmung von Adolf Eichmann übernahmen, nachdem dieser aus Argentinien nach Israel entführt worden war. "Als er das erste Mal den Mund öffnete, dachte ich, die Tore des Krematoriums öffnen sich noch einmal", erzählt Goldmann-Gilead.

Und doch musste er unterscheiden zwischen seiner privaten Lebensgeschichte und dem Auftrag, Eichmanns Verantwortung für die Organisation des Massenmords an den Juden zu beweisen. "Wir waren viel mehr Gentlemen, als wir gesetzlich hätten sein müssen", sagt er. Aber auch: "Das hat mich viel Gesundheit gekostet." Kurz nach dem Prozess, der im Dezember 1961 mit dem Todesurteil endete, kam der erste Herzinfarkt.

Bewegend ist vor allem die Haltung, mit der Goldmann-Gilead zurückblickt. Der Vernehmer scheint noch durch, wenn er Kopien von Dokumenten hochhält, mit denen bewiesen wurde, dass Eichmann eben nicht "eine kleine Schraube in der Vernichtungsmaschinerie" war, wie er selbst behauptete, sondern Hauptverantwortlicher für die massenhafte Deportation. "Im Laufe der Monate konnten wir schließlich seine Lügenaussagen im Voraus erraten."

Doch daneben stellt der einstige Polizeioffizier die Retter, denen auch er sein Leben verdankt. "Sie waren die Sterne, die uns Holocaust-Überlebenden die dunkle Nacht der Shoah erleuchtet haben." Goldmann-Gilead selbst hat in über 90 Fällen dafür gesorgt, dass sie von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt wurden. "Sie gaben uns die Kraft, den Glauben an Gott und die Menschen nicht zu verlieren."

Die historische Bedeutung des Eichmann-Prozesses liegt für ihn vor allem darin, "dass die Menschen in Israel angefangen haben zu glauben, was uns passiert ist. Denn es war unmöglich, das zu glauben." Vor dem Hintergrund kann er auch mit Hannah Arendts Formulierung von der "Banalität des Bösen" nichts anfangen. "Wir sahen in ihm ein Monster", sagt Goldmann-Gilead über Eichmann. "Giftgas, Massenmörder, Vernichtungslager - ist das banal?"

Goldmann-Gilead ist nicht der einzige Zeitzeuge, der auf dem Kirchentag Auskunft gibt. In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme werden vor allem Jugendgruppen mit denen zusammengebracht, die noch aus eigener Erfahrung von der Verfolgung erzählen können. Lange wird das nicht mehr möglich sein.

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