Tolldreiste Geschichten: John Galliano wird 50

Paris (dpa) - Als Kind soll er Flamenco auf dem Küchentisch getanzt haben. Später mischte er die Londoner Clubszene auf. Dass Dior-Designer John Galliano 50 wird, mag man kaum glauben. Doch gilt der einst so wilde Typ in Paris längst als Institution.

Gerade war er noch der „junge Wilde“. Zumindest wenn John Galliano sportgestählt am Ende seiner Defilees in spektakulären Verkleidungen - ob als Pirat, als Napoleon oder als Astronaut - über den Laufsteg schreitet, scheint der exzentrische Typ aus London durch, der einst die Pariser Mode aufmischte. Am 28. November wird er 50 Jahre alt. Trotz seiner aufreizenden Auftritte ist er längst eine echte Pariser Institution.

Vergessen sind die Kommentare französischer Zeitungen, die sich 1996 darüber aufregten, dass ein unkonventioneller Brite fortan die kreativen Geschicke des urfranzösischen Modehauses Dior steuern sollte. Dabei hatte Galliano in den Jahren davor die Pariser mit seinen eigenen Kollektionen entzückt. Doch als er von LVMH-Chef Bernard Arnault erst zum Chefdesigner des zu dessen Luxusimperium gehörenden Hauses Givenchy berufen wurde und wenig später dann zu Dior, spielten konservative Medienvertreter verrückt. Erschwerend kam hinzu, dass Gallianos ebenso unzahmer Kollege Alexander McQueen dessen Platz bei Givenchy einnahm.

Dass die britischen „Rocker“ ihr Handwerk hervorragend verstanden, mussten ihre Kritiker bald zugeben. Mit McQueen, der am 11. Februar 2010 starb, verband John Galliano nicht nur das Studium an der Londoner Kreativschmiede Central Saint Martins College of Art & Design. Auch gehörten beider Schauen zu den aufregendsten der Szene. Sie arbeiteten mit „Wow“-Effekten und tolldreisten Geschichten. Bei Galliano schien manchmal ein ganzer Roman Stoff zu werden, etwa die Reise einer Internatsschülerin an den Nil und nach Hollywood. Er prunkte mit exotischen Kulissen: Mal ging es auf die Rennbahn, mal in den Bahnhof Gare d'Austerlitz, wo die Gäste zwischen historischen Koffern und Palmen Champagner nippten und auf den „Diorient Express“ mit den Models warteten.

Noch heute finden sich in den Beschreibungen von Gallianos Kollektionen - ob für sein eigenes Label oder für Dior - bunte Assoziationsketten. Auch die Couture-Schau für Herbst/Winter 2010/11 mit flirrenden Farben und atemberaubenden Kleidern, die Blütenkelchen glichen, zeugte von seiner immer noch unbändigen Fantasie.

Theatralisch und verführerisch treten seine Models stets auf, selbst wenn er mit Herrenhosen oder Trappermänteln experimentiert. Galliano schwelgt in üppigen Pelzen, feinen Mustern und Seidenkleidern. Seiner Liebe zum großen Auftritt soll er schon als Kind gefrönt haben. Der Designer, der in Gibraltar zur Welt kam und auf den Namen Juan Carlos Antonio Galliano getauft wurde, hat mediterrane Wurzeln. Seine aus Spanien stammende Mutter soll ihm (nach dem Umzug der Familie nach London) als Kind auf dem Küchentisch Flamenco beigebracht haben. Zudem nähte sie ihm, wie der Buchautor Colin McDowell berichtete, Kleider, die „eines kleinen Prinzen würdig gewesen wären“.

Seine Kleidung mag John Galliano als Kind Hänseleien eingetragen haben. Als Modestudent half sie ihm. Galliano, der neben dem Studium als Ankleidehilfe im Theater jobbte, machte sich in der bewegten Clubberszene der 80er-Jahre einen Namen mit seinen selbst kreierten Kostümierungen. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum er seine irren Laufstegauftritte in perfekt durchdeklinierten Outfits so genießt. Für die zeichnet übrigens häufig ein Deutscher verantwortlich: der Modejournalist und Stylist Klaus Stockhausen.

Heute gilt der Brite als Liebling der Pariser. Gibt er der charmanten Alexandra Golovanoff in den Modesendungen von „Paris Première“ eines seiner raren Interviews, wundert man sich. Da erscheint der als narzisstisch und schwierig verschriene Modemacher leise, sanft und verträumt. Doch besitzt dieser kindliche Kaiser der Modewelt große Durchsetzungskraft. Länger als er hat bisher nur der unscheinbare Marc Bohan das Kreativzepter bei Dior in der Hand behalten. Galliano hat von dessen „Rekordzeit“ - 26 Jahre - schon über die Hälfte hinter sich gebracht. Es scheint, als habe er noch einige Kollektionen für das berühmte Pariser Modehaus vor sich.

Service:

Das Buch von Colin McDowell „Galliano“ ist in Deutschland nur noch gebraucht erhältlich (die deutsche Ausgabe erschien 1997 beim Wilhelm Heyne Verlag München).

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