200 Jahre Biergarten: Lebensgefühl unter Kastanien

München (dpa) - Für ihre Biergärten gingen die Bayern sogar zu Tausenden auf die Straße: Ein kühles Bier unter Kastanien gehört im Freistaat zur Lebensart. Dieses Jahr feiert die Tradition ihr 200-jähriges Bestehen.

Eine Maß Bier unter Kastanien, dazu eine mitgebrachte Brotzeit: Der Biergartenbesuch ist in Bayern gängige Freizeitgestaltung - und das seit 200 Jahren: Am 4. Januar 1812, erlaubte König Max I. den Brauern, über ihren Bierkellern Bier auszuschenken. „Ich habe deshalb 2012 zum Jahr des Biergartens erklärt“, sagt Münchens Tourismuschefin Gabriele Weishäupl.

Die Brauereien lagerten früher das im Winter gebraute Bier in unterirdischen Gewölben. Aus Flüssen und Seen geschnittene Eisbrocken sorgten für Kühlung. Über den Kellern pflanzten die Brauer Schatten spendende Bäume - so blieben die Lagerräume kühl.

Aus den Kellern nahmen die Leute das Bier in Krügen mit. An heißen Tagen lockte der Schatten der Kastanien zur Rast - und so kam mancher Krug leer Zuhause an. Findige Brauer machten daraus ein neues Geschäft - und gerieten in Zank mit den Gastwirten, denen die Gäste wegblieben. Am 13. Mai 1791 beschwerten sich Münchner Wirtsleute aus der Au über die am nahem Isarhochufer angesiedelten Bierkeller beim Kurfürsten Karl-Theodor. Zwischen Gastwirten, Brauern und auch Gästen soll es damals teilweise zu handfesten Schlägereien gekommen sein.

Erst der königliche Erlass 1812 brachte Frieden: Nun durften die Brauer von Juni bis September ihr Märzenbier ausschenken, um es „in minuti zu verschleißen“, also: sofort zu trinken. Brot durften sie servieren. „Das Abreichen von Speisen und anderen Getränken bleibt ihnen aber ausdrücklich verboten“, entschied der König als Kompromiss für die Wirte. „Die Wirte haben sich anscheinend damit abgefunden“, sagt der Leiter des Münchner Stadtarchivs, Michael Stephan.

Die Biergarten-Gäste wollten ihre Maß aber nicht auf nüchternen Magen trinken und so brachten sie ihr Essen kurzerhand mit. Aus der Gewohnheit wurde Tradition. Mancher „Zuagroaste“ - auf Hochdeutsch der Zugereiste - staunt, wenn Einheimische ihre eigene Tischdecke entfalten, Geräuchertes, Käse und Rettich, Salzstreuer und Besteck ausbreiten und gar ein Kerzchen anzünden. „Das gibt es nirgendwo anders auf der Welt“, sagt Weishäupl.

Das Mitbringen von Speisen ist inzwischen verbrieftes Recht: Einen Biergarten kennzeichne die Möglichkeit, „dort auch die mitgebrachte, eigene Brotzeit unentgeltlich verzehren zu können“, legt die Biergartenverordnung von 1999 fest. Sogar vor den Oktoberfest-Zelten ist das Recht auf die eigene Brotzeit garantiert. Weil einige Wirte versucht hatten, die Gäste zu einer Bestellung zu nötigen, schreibe die Stadt die „Biergartenfreiheit“ seit 2007 in den Wiesn-Verträgen fest, sagt Weishäupl. „Letztlich ist die Wiesn der größte Biergarten Münchens.“ Alle Zelte zusammen bieten fast 30 000 Plätze.

Wenn es um ihr Recht auf den Biergarten geht, sind die Bayern zum Aufstand bereit: Rund 20 000 Menschen demonstrierten 1995 bei der „Biergartenrevolution“ gegen Einschränkungen bei den Öffnungszeiten. Die Demonstranten zogen zur Staatskanzlei. „Wir standen unten und riefen: Rettet den Biergarten“, erinnert sich Weishäupl.

Anwohner hatten wegen Lärms geklagt und vor Gericht Recht bekommen. Biergärten, darunter die renommierte Waldwirtschaft, hätten ab 21.30 Uhr kein Bier mehr ausschenken sollen. „Einen Biergarten um halb zehn zumachen - da ist es ja noch hell! Aus ganz Bayern kamen die Leute und haben protestiert“, sagt die Präsidentin des Vereins zur Erhaltung der Biergartentradition, Ursula Seeböck-Forster. Der Freistaat erließ auf den Protest hin die Biergartenverordnung, nach der bis 22.30 Uhr ausgeschenkt werden kann, um 23.00 Uhr soll - von Einzelentscheidungen abgesehen - Ruhe herrschen.

Neue Gefahr für die Tradition: Mancher Neu-Bayer bringt statt Radi, Obazdn und Brezen einen Döner mit oder lässt sich gar Pizza an den Biertisch liefern. „Eine klassische Biergartenmahlzeit ist das nicht - aber wir schreiben nicht vor, was der Mensch essen soll“, sagt Weishäupl. Auch Seeböck-Forster betont, das sei „nicht das, was man sich für einen gescheiten Biergarten wünscht“. In Bayern gelte jedoch „leben und leben lassen“.

Auch Facebook-Verabredungen zu regelrechten Biergartenpartys entsprächen nicht gerade der Tradition. Es sei kein Ort für „Flashmobs, die sich da mit 200 Leuten zusammenrotten und auf leeren Plätzen Riesenbuffets aufbauen“. Vielmehr sei der Biergarten gerade in der Großstadt wichtig für Familien mit Kindern und nicht so viel Geld. Dort könnten sie günstig im Freien sein und essen. „Ein Biergarten hat in der Großstadt eine große soziale Funktion.“

Der Biergarten ist freilich auch Sinnbild bayerischer Gastlichkeit und Kulinarik - und Touristenattraktion. Weishäupl: „Der Biergarten ist ein hochattraktives Motiv für unsere Tourismuswerbung.“

So attraktiv sind Bayerns Biergärten, dass Nordrhein-Westfalen versehentlich in einer Broschüre mit einem Biergarten-Bild aus dem Englischen Garten warb. Die „Verwechslung“ sei erst nach dem Druck aufgefallen, das Bild werde bei der Neuauflage ausgetauscht, hieß es, als die Panne ans Licht kam.

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