Rechtsmedizinerin Judith O’Higgins: „Daran gewöhnt man sich nicht“

Rechtsmedizinerin Judith O’Higgins spricht über ihren Beruf, das Sezieren und was sie aus der Bahn geworfen hat.

Düsseldorf. Menschen, die Judith O’Higgins (43) nach ihrem Beruf fragen, sind entweder schockiert oder wollen alles darüber erfahren. Die gebürtige Hildenerin war lange Rechtsmedizinerin in Hamburg, lebt mittlerweile aber mit ihrem Mann in London. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben.

Frau O’Higgins, Sie obduzieren im Jahr 500 Leichen. Wie kamen Sie zum Beruf als Rechtsmedizinerin?

Judith O’Higgins: Eigentlich wollte ich in die forensische Psychiatrie. Mich interessierte, was Menschen dazu bringt, zu Verbrechern zu werden. Nach einigen Hospitationen hatte ich aber mehr Fragen als Antworten. Je intelligenter ein Täter ist, desto weniger wird er seine wahren Motive preisgeben. In der Rechtsmedizin kann man aber beispielsweise anhand der Verletzungen der Opfer und der Spuren am Tatort etwas über den Täter und seine Motivation erfahren.

Ihr Beruf ist Gegenstand vieler Krimis. Ist es tatsächlich so spannend?

O’Higgins: Das ist größtenteils Schwachsinn. Wir haben nicht jeden Tag spannende Mordfälle. In Hamburg hatten wir im Schnitt 20 Tötungsdelikte pro Jahr.

Was reizt Sie besonders an Ihrem Beruf?

O’Higgins: Die Sektionen sind für mich am interessantesten. In Deutschland habe ich Studenten unterrichtet, geforscht und in einer Opferambulanz gearbeitet. In London führe ich ausschließlich Sektionen durch. In England werden viel mehr Sektionen angeordnet. Das ist dort die Regel. In Deutschland muss dem Toten schon quasi ein Messer im Rücken stecken.

Also kann man hierzulande leichter töten?

O’Higgins: (lacht) Es geht ja nicht immer um Tötungsdelikte. Aber in vielen Fällen wird in Deutschland fälschlicherweise ein natürlicher Tod attestiert.

Was hat das für Folgen?

O’Higgins: Wenn eine alte Person stürzt, weil Laub auf dem Gehweg war, sich den Oberschenkelhals bricht, bettlägerig wird, eine Lungenentzündung bekommt und stirbt, ist das kein natürlicher Tod. Viele Deutsche Ärzte attestieren das aber. Das hat jedoch rechtliche Konsequenzen, Hinterbliebene könnten in dem Beispiel den Hausbesitzer, der das Laub nicht weggefegt hat, auf Schadensersatz verklagen. Auch bei einem selbstverschuldeten Sturz sind möglicherweise Leistungen aus einer Unfallversicherung zu erwarten.

Sie sprechen sehr nüchtern über Ihren Beruf. Kann man das lernen?

O’Higgins: Das ist meiner Meinung nach keine Gewöhnungssache. Entweder man kann es oder nicht. Man muss eine völlige Euphorie für den Job haben und emotional stabil sein, besonders weil die Arbeitsbelastung sehr hoch ist — und man sieht jeden Tag, wie schnell das Leben vorbei sein kann.

Auch Sie wurden auf die Probe gestellt. . .

O’Higgins: Ich hatte Dienst und sollte mir einen Toten ansehen, der einen Motorradunfall hatte. Später stellte sich heraus, dass der Mann, den ich zunächst nicht einmal erkannt hatte, ein guter Freund war. Da bin ich zusammengebrochen. Die unerwartete Vermischung von Beruf und Privatleben hat meinen „Schutzschild“ komplett weggehauen. Ich empfand von da an eine überschäumende Empathie für meine Fälle. Selbst Todesfälle, bei denen alte Menschen eines natürlichen Todes gestorben waren, nahmen mich plötzlich stark mit.

Wie haben Sie das überwunden?

O’Higgins: Ich habe eine Therapie gemacht und mich den unangenehmen Dingen gestellt. Dadurch habe ich die professionelle Distanz zu den Fällen wiedererlangt.

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