Natascha Kampusch: Ein Jahr nach der Flucht

Die 19-Jährige sucht den Weg in die Normalität, doch ihr ist bewusst: „Die acht Jahre im Keller haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin.“

Wien. Ein Jahr nach ihrer Flucht aus dem fensterlosen Kellerverlies ihres Entführer Wolfgang Priklopil ist der Alltag für Natascha Kampusch noch immer nicht "normal". Ja, sie geht einkaufen, schwimmen, tanzen, sie übt Bogenschießen und hat die ersten Fahrstunden hinter sich. Doch sie lebt in einem Rahmen, der sie vor Überforderung schützen soll, sie aber auch von einem Allerwelts-Alltag abschottet.

Die 19-jährige Wienerin wohnt laut "Focus" allein in einer 130-Quadratmeter-Wohnung in Wien. Betreut wird sie von einem Sozialarbeiter, mehrmals in der Woche geht sie zur Psychotherapie. Sie ist weiterhin von Anwälten umgeben, die genau darauf achten, welche Bilder und Zitate von ihr in die Medien gelangen.

Natascha Kampusch war zehn Jahre alt, als sie am 2. März 1998 auf dem Schulweg entführt wurde: Wolfgang Priklopil, damals 36, zerrte sie in einen weißen Lieferwagen und hielt das Mädchen jahrelang wie eine Sklavin. Gut acht Jahre später, am 23. August 2006, gelingt der mittlerweile 18-Jährigen endlich die Flucht. Abgemagert und blass taucht Kampusch im Garten einer Nachbarin in Strasshof bei Wien auf. "Ich bin entführt worden", ruft sie der Frau zu, dann bricht sie zusammen. Wenige Stunden später wirft sich ihr Entführer vor einen Vorortzug.

Um die junge Frau, die so lange von der Außenwelt abgeschottet war, bricht ein Medienspektakel los. Um sie vor dem Ansturm zu bewahren, wird sie von einem Team von Psychologen und Sozialarbeitern an einem "geheimen" Ort rund um die Uhr umsorgt, selbst ihre Eltern dürfen zunächst nicht zu ihr. In der Folgezeit gibt Natascha, die sich trotz ihrer Gefangenschaft ungewöhnlich präzise und anschaulich ausdrückt, in ausgewählten Medien Interviews.

Mit dem Honorar will sie anderen Entführungsopfern helfen, kündigt sie an. Die Gründung dieser Stiftung steht allerdings bisher aus. Ihr Anwalt Gerald Ganzger erklärt, knapp 50 000 Euro aus Spenden an Natascha befänden sich auf einem Sonderkonto. Das Geld solle entführten Frauen und Kinder in Mexiko und Mittelamerika zugute kommen. Für solch ein Projekt sei eine längere Vorlaufzeit nötig, einen aktuellen Starttermin gebe es nicht.

Die 19-Jährige will zunächst den Hauptschulabschluss nachmachen und bekommt nachmittags Einzelunterricht von einem Lehrerteam. "Das Programm geht von Frau Kampusch aus. Sie kann sich aussuchen, wie sie lernen möchte," heißt es aus dem Team. Der momentane Wissensstand lasse sich nicht einer bestimmten Schulstufe zuordnen.

Etwas seltsam wirkte vor kurzem Kampuschs Auftritt, als ihre Mutter Brigitta Sirny ihr Buch über Natascha vorstellte. Die Tochter stellte sich getarnt mit großer Sonnenbrille und Fächer in die letzte Reiher, wurde aber dennoch von den Fotografen erkannt - und zog deren Aufmerksamkeit sofort auf sich.

Gerade erst war sie mit ihrer Schwester und einem TV-Journalisten in Barcelona - für eine Mischung aus Urlaub und Interview. Da staunte sie ganz naiv: "Es war alles so natürlich, das Meer war auch sehr schön und diese riesigen Dampfer. Ich habe noch nie so große Schiffe gesehen."

Ihre Zelle Acht Jahre lang hielt der Entführer Wolfgang Priklopil Natascha Kampusch im fensterlosen Keller eines Einfamilienhauses in Strasshof bei Wien gefangen.

Das Haus Das gelbe Gebäude steht bis heute leer. Die Jalousien sind heruntergelassen, der Garten ist verwildert.

Nataschas Plan Die Wienerin will das Haus, in dem sie entsetzliche Jahre verbracht hat, von Priklopils Mutter kaufen. Nicht um darin zu wohnen, sondern "um zu verhindern, dass es zu einer Pilgerstätte oder einer Art Disneyland wird", sagen ihre Rechtsberater.

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