Christian Frommert: „Am Tiefpunkt wog ich 39 Kilo“

Herr Frommert, Sie sagen selbst, Sie sind noch krank. Warum haben Sie ein Buch über die Magersucht geschrieben?

Frommert: Nicht aus Kalkül. Das war ein Produkt aus über 1300 Seiten, die ich während der Magersucht geschrieben habe, um mir den Irrsinn, den ich da an mir begehe, selbst zu verdeutlichen. Angefangen hat es mit einer Tabelle, die ich mir gemacht habe: Was wird besser, wenn ich wieder esse? Was ist der Vorteil, wenn ich in der Magersucht bleibe? Aus dieser Tabelle sind 1300 Seiten geworden. Für mich war das unkürzbar, für meinen Co-Autoren nicht.

Schreiben als Selbsthilfe oder Hilfe für andere?

Frommert: Es ist kein Ratgeber Magersucht. Ich hab ganz einfach ein Leben mit allen Facetten aufgeschrieben. Da geht es um Magersucht. Aber ich habe ein Leben wie Millionen andere auch. Was ich zeigen will: Es gibt bestimmte Punkte, die dazu führen, dass sich ein Leben in irgendeine Richtung verändert. Erfahrungen aus der Kindheit können dir mit 40 auf die Füße fallen. Das war mir wichtig. Und ich sage: Das ist nicht schlimm, man darf scheitern. Natürlich gehe ich mit diesem Buch ein Risiko: Ob man die Beratung eines 44-Jährigen bezahlen will, der sich noch in die Hosen pinkelt?

Der Titel des Buches, „Dann iss doch was!“, ist kalkulierter, blanker Hohn.

Frommert: Er bringt nichts weniger als die Magersucht auf den Punkt. Du als Betroffener konservierst diesen Leidenszustand. Es ist für dich eigentlich kein Leiden, du willst es ja so. Wer richtig leidet, ist das Umfeld. Das kann nicht damit umgehen, reagiert gar nicht - oder falsch.

Was ist falsch?

Frommert: Du darfst dich von dem Magersüchtigen und seinen Launen nicht wegbeißen lassen. Die ältere Generation reagiert gar nicht, weil sie damit gar nichts anfangen kann. Wie kann man denn bitte schön nichts essen? Meine Mutter hat nie ein Wort mit mir darüber gesprochen, außer: Dann iss halt was. Das ist kein Vorwurf, sie können es sich eben gar nicht vorstellen. Und jeder findet sich total originell, wenn er bei jeder Gelegenheit sagt: Hier, so ein Stück Kuchen oder diese Bratwurst, das geht doch. Ich habe das lange als demütigend empfunden. Irgendwann war mir klar: Gut gedacht und schlecht gemacht. Sie meinen es nicht böse.

Wie reagiert man richtig?

Frommert: Ich habe keine Patentlösung. Meine Freundin Steffi, der ich mein Leben verdanke, hat sich sofort beraten lassen. Man muss hartnäckig sein und auch bis zum Äußersten gehen. Wenn mich meine Schwester und mein Schwager, der Arzt ist, nicht beim Vormundschaftsgericht angezeigt hätten, um mich zu entmündigen, würde ich jetzt nicht mehr leben. Ich hätte immer weitergemacht. So musste ich immerhin irgendwie reagieren. Ich habe die Sachverständige dank meiner kommunikativen Fähigkeiten überzeugen können, obwohl ich an keinen meiner Sätze geglaubt habe. Zu Hause habe ich dann weitergemacht.

Verzeiht man in dieser Situation seiner Schwester so etwas?

Frommert: Ich werde es nie vergessen. Es war Sommer 2009, bitterkalte 28 Grad, natürlich habe ich wie immer gefroren, eingemurmelt auf dem Balkon. Dann kam dieses Schreiben. Ich habe geheult, habe meine Mutter angerufen und ihr gesagt: Meine Schwester ist für mich gestorben. Aber sie war knallhart, es war ihr egal. Mein Schwager hatte immer meine Blutwerte, das war Teil der Abmachung. Er kam im Winter 2009, kurz vor Weihnachten, mit der Nachricht: Die Ärzte hätten noch niemanden gesehen, der mit einem solchen Blutbild noch lebt. Es war der Tiefpunkt, ich wog noch 39 Kilo.

Wieviel ist es heute?

Frommert: Keine Ahnung.

Wiegen Sie sich nicht mehr?

Frommert: Nein, die Waage löst immer etwas aus, davon will ich mich freimachen. Ich habe andere Kennzeichen: Wenn ich merke, mir passen bestimmte Hosen nicht mehr, dann schrecke ich auf. Eigentlich ist es egal, ob Du 44,2 oder 44,3 Kilo wiegst. Für einen Magersüchtigen aber ist es die Welt. Den ganzen Tag würde ich mich fragen: Woher sind diese 100 Gramm?

Bleiben diese Gedanken?

Frommert: Mein Leben lang. Da bin ich mir sicher. Selbst, wenn ich mal zehn Kilo zunehmen sollte. Dieser Zufluchtsort, die dir diese Anorexia (Magersucht) gibt, diese absolute Kontrolle — und darum geht es wesentlich in der Magersucht — bietet dir die Sucht. Du kannst nur lernen, damit zu leben. Die Sucht umarmt mich nicht mehr, aber sie bietet mir noch ihre Schulter an. In Stresssituationen, bei Existenzängsten oder Ähnlichem ruft sie dir zu, und du musst lernen wegzuhören. Manchmal schreit sie aber so laut, dass es nicht geht. Du musst auch diese Rituale und Zwänge ablegen, die prägen mich noch sehr stark.

Welche Rituale sind das?

Frommert: Essen, immer das gleiche, immer zur gleichen Zeit, immer mit dem gleichen Besteck, gleiche Zubereitung — wie ein Ritual.

Was haben Sie heute, es ist jetzt 15 Uhr, schon gegessen?

Frommert: Noch gar nichts. Ich bin um 4.30 Uhr aufgestanden, wie jeden Morgen. Ich verbiete mir, länger liegen zu bleiben, gehe dann in meinen Fitnessraum, mache 45 Minuten Gymnastik und Muskeltraining, obwohl ich keine Muskeln habe. Dann sitze ich eineinhalb bis zweieinhalb Stunden auf dem Rad (Ergometer). Danach noch eine Stunde laufen. Seit 2008 mache ich das, ohne eine Ausnahme.

Was denken Sie, wenn Sie zwei Stunden Rad fahren in aller Frühe?

Frommert: Bei mir tickert der Kopf rund um die Uhr. Ich entwickle Konzepte, schicke mir mit dem Smartphone selbst E-Mails. Es gibt Tage, da falle ich in einen Tunnel, fahre drei Stunden, ohne es zu merken. Und das oft nach einer schlaflosen Nacht.

Sie scheinen alles sehr genau zu reflektieren, haben aber nicht die Kraft, dagegen an zu kämpfen?

Frommert: Es ist genau so. Es ist wie Engelchen und Teufelchen, eine klare Schizophrenie. Christian reflektiert alles, aber wenn es hart auf hart kommt, dann kommt Anna (Anorexia, Magersucht). Wie damals, als ich auf der Treppe lag. Da wusste ich: Es geht nicht mehr. Ich kam nicht mehr hoch in meine Wohnung. Mein bester Freund ist 50 Kilometer hergefahren, abends um 23.30 Uhr, und hat mich hochgetragen. Es war demütigend. Aber als ich in der Wohnung war, da hatte ich wieder alles, meinen geschützten Raum. Und am nächsten Morgen wachst du mit neuer Kraft auf und sagst dir: So viel sind 20 Gramm Müsli. Ach nein, dann bleibe ich doch besser bei fünf Gramm. Wenn zu mir jemand sagt: Du siehst gut aus! Dann heißt das für mich: Du bist fett geworden. Man hat mir nie erlaubt zu scheitern. Und genau das habe ich kultiviert. Dabei bin ich voller Selbstzweifel.

Was hilft heute?

Frommert: Meine Therapie von unglaublicher Intensität. Natürlich habe ich mein Essverhalten verbessert, obwohl es — keine Frage — nach wie vor gestört ist. Die Blutwerte sind in Ordnung. Ich habe einiges aufgeweicht und gemerkt, dass ich trotzdem noch leben kann. Wenn ich um 5.15 Uhr auf dem Rad sitze und nicht um 4.45 Uhr — ohne ein Versager zu sein. Aber der Körper ist weiter als der Kopf. Ich gehe nach wie vor auf keine Waage, schaue in keinem Spiegel meinen Körper an.

Es gibt, sagen Sie, keinen einzigen Grund für ihre Sucht. Einer scheint aber auf ihre langjährige Freundin zurückzugehen.

Frommert: Wir waren 17 Jahre zusammen. Das, was ich bei ihr im Tagebuch gefunden habe, als sie weg war, hatte ich mir ohnehin schon eingeredet. Jetzt kam die Bestätigung. „Er ist schon ganz schön dick“, stand dort geschrieben. Ich habe mir geschworen, das zu ändern. Vor drei Wochen habe ich ihr gestanden, was auch im Buch steht. Weil ich nicht wollte, dass sie es aus der Zeitung erfährt. Sie hat nur gesagt: Wahnsinn, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sind.

Und welche Rolle haben der Radsport und seine Begleitumstände gespielt? Sie standen im Spannungsfeld der Dopingproblematik auf einmal im Rampenlicht.

Frommert: Jan Ullrich hat damit sicher nichts zu tun. Aber dieses plötzlich in die Öffentlichkeit geworfen zu werden, das hat mich angefixt. Plötzlich kannte dich jeder, das streichelt deine Eitelkeit. Aber worauf du nicht vorbereitet bist, das ist die Stille danach. Die schreit dich wirklich an. Ich kann jeden ehemaligen Schlagerstar verstehen, der auf Hausbooten wohnt und Alkoholiker ist. Plötzlich will keiner mehr von dir die Uhrzeit wissen.

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