Alpträume Halloween und Horrorfilm: Die Lust am Gruseln

Berlin (dpa) - Was passiert, wenn der eigene Alptraum Wirklichkeit wird? Fast drei Millionen Menschen wollten das in den vergangenen Wochen im Kino sehen: Die Neuverfilmung von „Es“, dem legendären Horrorkrimi aus der Feder Stephen Kings, hält sich hartnäckig an der Spitze der deutschen Kino-Favoriten.

Alpträume: Halloween und Horrorfilm: Die Lust am Gruseln
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Und Halloween zaubert gerade vielerorts Monsterkostüme in die Schaufenster. Warum lockt die Lust am Gruseln immer wieder neu, obwohl Horror-Clowns auf der Leinwand gleich wieder neue Alpträume hervorrufen können? Wen lockt das in einer Welt, die oft schon schaurig genug ist?

Der Potsdamer Psychologe Gerd Reimann vermutet, dass sich rund die Hälfte der Bevölkerung von fiktivem Horror angezogen fühlt. „Das deckt sich mit den Studien der Filmemacher“, sagt er. „Es lohnt sich, über Horrorfilme und Gewaltszenen nachzudenken, denn sie füllen die Kassen.“

Zwischen Männern und Frauen sieht sein Münchner Kollege Lothar Hellfritsch, ehemals Präsident des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, bei der Grusellust keinen Unterschied. „Das ist sehr individuell bei Menschen. Es gibt eher kulturelle Unterschiede im Umgang mit der Angst.“ Das könne schon damit beginnen, wie Kinder erzogen würden - überbehütet oder mit Freude am Risiko.

„Es gibt Vermutungen, dass jeder Mensch eine gewisse Veranlagung zum Bösen hat“, erläutert Reimann. „Sie müssen das aber nicht in eigenen Taten ausleben. Das geht auch stellvertretend, zum Beispiel in den Bildern eines Films.“ Der Psychoanalytiker Sigmund Freud habe versucht, die Sache so zu erklären: Menschen, die sich freiwillig solchen Gewaltbildern aussetzten, erlebten auch Läuterung. „Naturwissenschaftlich hat sich dieser Effekt allerdings noch nicht nachweisen lassen“, sagt Reimann.

Er hält es für wahrscheinlicher, dass jedes Bild, das von der Norm abweicht, automatisch Interesse erzeugt. „Das ist tiefe Neugier“, sagt er. „Und es bringt Erleichterung, wenn man zugucken darf, aber selbst nicht betroffen und vor allem nicht das Opfer ist.“

„Angstlust“ nennt das Hellfritsch. „Da kommen zwei Emotionen zusammen: Anspannung und Entspannung.“ Die Zentren für Angst und Lust lägen im Gehirn nah beieinander, die Wechselwirkung spiegele sich beim Gruseln messbar auch im Spiel der Hormone: Adrenalin sorge dabei für den Schauer, Endorphine seien für ein Glücksgefühl zuständig.

Die Toleranzgrenzen bei fiktivem Horror seien eben sehr verschieden, ergänzt der Psychologe. „Wenn's nur schlimm war, gehen Menschen in solche Filme nicht mehr rein. Wenn's schlimm war und schön zugleich, dann ist das wie bei einer Sucht - die Droge wollen wir immer wieder neu.“

Horrorfilme spielen nicht zufällig mit Urängsten von Menschen - mit Tod, Gewalt und Kontrollverlust, der Angst vor dem Fremden oder der Dunkelheit. Es gehe um eine Konfrontation damit, erklärt Hellfritsch. „Aber in einer angenehmen Situation. Im Kinosessel wissen wir, dass das nicht echt ist, das ist unser Rettungsanker.“

Anders sei das bei Kindern, die bis zu einem gewissen Alter nicht immer zwischen „echt“ und „unecht“ unterscheiden könnten. Wer seinen eigenen Angst-Level kenne, habe nach einem Gruselfilm auch ein Siegergefühl: Ich hab's gepackt. „Das ist das gleiche Prinzip wie bei der Achterbahn.“

Von der reizvollen Angstlust bekomme deshalb niemand eine psychische Erkrankung, versichert Hellfritsch. „Das Ausprobieren ist nicht schlimm - außer, ein Mensch übernimmt sich.“ Das könne dann schon mit schlaflosen Nächten und Alpträumen enden.

Das Ausloten der Toleranzgrenze bei Angstlust ist aber nicht immer einfach. Psychologe Reimann berichtet von Experimenten mit Ratten, die sich selbst Stromstöße versetzen durften. „Das war für einige Tiere so lustvoll, dass sie die Schwelle überschritten haben - und für ihre Lust den Tod in Kauf genommen haben.“ Beim Menschen gelte dieses Prinzip zum Beispiel bei Extremsportarten.

Zum Gruseln im Kino gehört auch eine Gruppendynamik. „Zu Hause allein würden sich viele Leute Horrorfilme wahrscheinlich nicht ansehen. Die Gruppe reduziert die Belastung. Man fühlt sich aufgehoben, das gibt den meisten Menschen Sicherheit“, sagt Reimann. Brutale Filme könnten dem Zuschauer auch das Gefühl vermitteln, selbst auf der besseren Seite zu stehen. Es sei ebenfalls ein gesunder Impuls, sich eigenen Ängsten auszusetzen. Verarbeitung geschehe, wenn man Konfrontation suche.

Die Lust am Gruseln ist für Reimann kein modernes Phänomen. „Früher gab es öffentliche Hinrichtungen oder Folter. Das waren Massenveranstaltungen, auch noch in unserer christlich geprägten Religion.“ Das Zuschauen ziehe sich durch die Menschheitsgeschichte. „Auch, weil sich unser Gehirn in Hunderttausenden von Jahren nicht großartig verändert hat.“

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