Nackt! Marta treibt Besuchern die Schamesröte ins Gesicht

Herford (dpa) - Es gibt Situationen, da möchte man vor Scham im Boden versinken. Man steht mitten im größten Fettnäpfchen und fühlt sich nackt bis auf die Haut: bloßgestellt vor sich und der Welt.

Das Marta Herford erkundet in der Ausstellung „Die innere Haut - Kunst und Scham“ (3.3.-4.6.) die Grenzen dieses Gefühls der inneren und äußeren Nacktheit, das wohl jeden Menschen schon mal hochrot anlaufen ließ.

Beim Thema Scham trifft das Bild der beiden nackten Paradiesbewohner Adam und Eva direkt den Kern - und sorgt im Museum gleich zu Beginn der Ausstellung für einen Höhepunkt. Präsentiert wird der berühmte Kupferstich „Der Sündenfall“ von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1504. Das Bild zeigt Adam und Eva unmittelbar vor dem alles verändernden Biss in den Apfel. Ab da empfinden sie ihre nackte Unschuld als beschämende Nacktheit.

Es folgen mehr als 100 weitere Gemälde, Papierarbeiten, Fotografien, Installationen und Videos vor allem zeitgenössischer Künstler, die die Folgen dieses Urknalls des menschlichen Schamempfindens in allen Facetten bis in die vermeintlich schamlose Gegenwart ausloten.

Die Schau hat vier thematische Schwerpunkte: Paradies und Pubertät, Verhüllen und Offenbaren, Norm und Ausgrenzung, Witz und Provokation. Wohin man blickt, stößt das Auge auf nackte Haut. Da sind die ungelenk wirkenden Körper von Jugendlichen, die die niederländische Fotografin Rineke Dijkstra am Strand in Badehose und Badeanzug frontal zum Betrachter inszeniert. Aus der etwas linkisch wirkenden Körpersprache tritt deutlich die schutzlose Verletzlichkeit der Pubertierenden in diesem spannungsreichen Moment zwischen Kindheit und Erwachsensein hervor.

In verblüffender Parallelität dazu: das Gemälde der Schweizer documenta-Künstlerin Miriam Cahn, die vor ähnlicher Strandkulisse eine Gruppe aus Seenot geretteter Flüchtlinge als fahlweiße Schatten ihrer selbst erscheinen lässt. Werke, angesichts derer niemand sich der Frage entziehen kann, wer hier der Beschämte sei, Betrachtete oder Betrachter.

Diese Ambivalenz des gedoppelten Schamgefühls durchzieht die gesamte Schau: In einer Videoinstallation von Santiago Sierra mit Veteranen aus Afghanistan, dem Irak und Nordirland zwischen Pflichterfüllung und Täterbewusstsein. Mit augenfällig schamhafter Geste stellen sich die Soldaten in die Ecke eines Raumes. Andere Werke hinterfragen die aktuellen Schönheitsideale aus Modewelt und Erotik-Branche.

Die Idee für die Ausstellung hatte Kuratorin Friederike Fast. Für sie gibt die Schau Anlass, über die Rolle der Scham für jeden einzelnen Menschen, aber auch für eine ganze Gesellschaft neu nachzudenken: „Scham wird oft als negativ wahrgenommen, als Verletzung von Grenzen. Aber sie dient auch dazu, Mitleid zu wecken und Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit zu erzeugen. Uns kommt es darauf an, dass beide Seiten wahrgenommen werden.“

In seiner sehenswerten Ausstellung zielt das Marta Herford nicht mit äußerer Nacktheit auf Publikumserfolge ab. Es stellt mit großem Engagement Fragen zur Problematik von Scham - und auch zu den Folgen fehlender Scham.

Dass dennoch beim Betrachter nicht etwa lähmende Beklemmung nachklingt, liegt nicht zuletzt an manchem Farbtupfer - wie dem Nacktbildnis der großen Modeschöpferin Vivienne Westwood. Sie hatte sich 2009 für den Fotografen Juergen Teller in sinnlicher Pose drapiert. Vorbild war Édouard Manets „Olympia“. Dabei korrespondiert die helle Haut der nackten Westwood mit ihrer leuchtend-orangefarbenen Haarpracht und den Sofakissen.

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