Verspielt Judith Holofernes und das strukturierte Chaos

Berlin (dpa) - Das Treffen mit Judith Holofernes verläuft anders als geplant. Spontan lädt sie in ihre Arbeitswohnung ein, direkt am Park Hasenheide in Neukölln.

Verspielt: Judith Holofernes und das strukturierte Chaos
Foto: dpa

Das Café, in dem das Interview zunächst stattfinden sollte, sei zu voll. Zu viel Chaos. Eigentlich genau der richtige Ort für das Gespräch. Schließlich geht es um ihr zweites Solo-Album. Das trägt den Titel „Ich bin das Chaos“ und erscheint an diesem Freitag.

Aber auch die Altbauwohnung in einem typischen Berliner Hinterhof entspricht in etwa dem Album-Titel. „Ich bin von der Anlage her klassische Chaotin, aber habe sehr viel gelernt“, sagt die Musikerin zu Beginn. „Als Kind habe ich meine Schultasche im Bus vergessen, bin mit einem Schuh aus dem Ferienlager zurückgekommen und habe mir beim Essen mit der Gabel im Gesicht rumgespielt.“

Verspielt kommen auch die elf Tracks auf ihrem zweiten Solo-Album daher. Mal unterhaltsam-komisch, mal melancholisch-traurig. Chaotisch halt. „Wir sind alle in unterschiedlicher Ausprägung verliebt ins Chaos. Wir gucken gerne den Batman-Bösewichten dabei zu, wie sie Städte in Anarchie versenken. Auf der anderen Seite verbringen wir große Teile unseres Lebens mit dem Versuch, das Chaos zu beherrschen. Mit teilweise niedlich-inadäquaten Techniken.“

Aber so chaotisch, wie „Ich bin das Chaos“ erscheint, ist es beim genauen Hinhören gar nicht. Ganz im Gegenteil. Es ist ein Chaos mit Struktur. Angeführt vom wohl tragendsten Stück der Platte, „Der letzte Optimist“. Eine melancholische Ballade als Album-Opener? Mutig. Aber der Mut zahlt sich aus.

Denn so ist der Effekt umso größer, hört man den zweiten Track, die wunderbare Komposition „Oder an die Freude“, die direkt im Ohr bleibt und: Freude macht. Angelehnt an Beethovens Klassiker zählt Holofernes per mahnendem Chor auf, was wir im Leben alles machen, anstatt uns einfach nur der Freude hinzugeben: „Tochter, mach' dein Physikum.“

Temporeich geht es weiter, mit der Geschichte von „Charlotte Atlas“, die versucht, die Welt auf ihren Schultern zu tragen, und „Analogpunk“. Hier tobt sich die Wortakrobatin Holofernes, die 2015 einen Band mit komischer Lyrik veröffentlichte, aus und stellt die digitale der analogen Welt gegenüber: „Ich schreib' ein Blog, du ein Buch. Ich mag Chats, du Besuch. Ich kenn' die Log-Ins, du Kenny Loggins. Ich Plug-Ins, du Bilbo Baggins.“

An der Reihenfolge der Songs hat die Frontfrau von Wir sind Helden („Denkmal“, „Nur ein Wort“) wochenlang getüftelt, sieht die Cineastin das Album doch als eine Art Episodenfilm. „Geht die Geschichte gut oder schlecht aus? Lässt man die Leute mit einem niederschmetternden Gefühl zurück?“ Nein. Das tut Holofernes nicht. Das gefühlsbetonte und persönliche Album ist von der Grundanmutung in einigen Songs zwar eher grau. Die farbenfrohen Seiten des Lebens überstrahlen aber alles, so wie in den Gute-Laune-Songs „Unverschämtes Glück“ oder „Ich bin das Chaos“.

Für die zweifache Mutter war die Fertigstellung des Albums eine Familienproduktion. Ihr Mann Sebastian „Pola“ Roy, Schlagzeuger bei Wir sind Helden, fungierte erstmals als Produzent. Dass die beiden künftig auch mal wieder bei Wir sind Helden zusammenarbeiten, die 2012 eine Auszeit ankündigten, will Holofernes zumindest nicht ausschließen.

„Wenn wir vier in einem Zimmer sitzen und Kaffee trinken, dann sind wir Wir sind Helden. Wir sind nur nicht aktiv und werden es vielleicht nie wieder sein. Aber wer weiß“, sagt Holofernes. Auf ihrer kommenden Tour will sie erstmals wieder ausgewählte, eher unbekannte Helden-Songs spielen. „Also bitte nicht "Denkmal", "Denkmal" rufen. So ist das nicht gemeint.“

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