25 Jahre nach dem Anschlag Der Brandanschlag von Solingen: Was am 29. Mai 1993 geschah

Beim Anschlag auf das Haus der Familie Genç am 29. Mai 1993 starben fünf weibliche Familienmitglieder. Die heimtückische Tat sollte Solingen verändern - und die politische Diskussion in Deutschland. Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

25 Jahre nach dem Anschlag: Der Brandanschlag von Solingen: Was am 29. Mai 1993 geschah
Foto: dpa

Solingen. Mai 1993: Kurz vor Pfingsten ist es schon ungewöhnlich sommerlich für diese Jahreszeit. Im Radio fragt Haddaway ständig „What is love?“, dazwischen streiten sich Politiker um das Asylrecht.

Und bei den Anhängern des Grunge vertreiben gerade Bandshirts die schweren Flanell-Karohemden ins Winterfach des Kleiderschrankes. Viele Jungs wollen aussehen wie ihr Vorbild Kurt Cobain. Während bei ihnen die Haare entsprechend immer länger werden, rasieren sich andere Teenager regelmäßig ihre Köpfe. Sie hören auch nicht Haddaway oder Nirvana. Aus ihren Jugendzimmern schallen Songs von Rechtsrockbands wie Störkraft. Darin heißt es „Tu endlich etwas für dein Vaterland. . .“

Es ist der 28. Mai 1993: An diesem warmen Freitag steht ein Polterabend im Vereinsheim einer Kleingartenanlage an. Die drei Freunde Christian B., Felix K. und Markus G. sind eingeladen. Eigentlich haben sie keine Lust. Aber da es kostenlosen Alkohol geben soll, entscheiden sie sich schließlich doch für die Party.

Im Haus der Familie Genç an der Unteren Wernerstraße herrscht Vorfreude. Das islamische Opferfest steht vor der Tür. Besuch aus der Türkei ist angereist. Mevlüde Genç hat für die Kinder Geschenke eingepackt. Alle Mädchen bekommen Kleider, die sie an diesem Tag anprobieren. Sie sehen glücklich aus und freuen sich auf das große Fest. Die kleine Saime kann sich doppelt freuen: Sie hat kürzlich die Zusage für ihren Kindergartenplatz per Post bekommen. Immer wieder zeigt sie den Brief stolz ihrer Großmutter Mevlüde.

Am Abend gehen die Kinder früh schlafen. Die Kleidchen hat Mevlüde Genç ihnen neben ihre Betten gelegt. Mit kleinen verpackten Geschenken zum Opferfest. Das Oberhaupt der türkischen Großfamilie, Durmus Genç, fährt jetzt zur Nachtschicht nach Ohligs. Es ist inzwischen spät geworden; und langsam gehen auch die Erwachsenen schlafen.

(Das Foto von 1993 zeigt die Särge von fünf Opfer vor dem ausgebrannten Haus in Solingen. Foto: dpa)

Im Haus gegenüber sitzt Christian R. mit ein paar Freunden in seinem Zimmer. Sie hören Rechtsrock und Christian schimpft auf die Türken von gegenüber. „Das Haus wird bald brennen“, sagt er. Als die Freunde sich später verabschieden, geht auch Christian R. noch einmal aus dem Haus.

Gegen Mitternacht sind Felix K., Christian B. und Markus G. so betrunken, dass sie bei den anderen Partygästen negativ auffallen. Es kommt zu einer Prügelei mit — so glauben die Jungen — türkischen Gästen. Schließlich verschwinden die drei Freunde. Sie besuchen auf dem Nachhauseweg einen Bekannten. Dort trinken sie wieder Bier und schimpfen auf die vermeintlichen Türken, mit denen sie sich kurz zuvor geprügelt haben. Nach etwa einer halben Stunde verabschiedet sich das Trio. Christian B., Felix K. und Markus G. laufen Richtung Innenstadt.

An einer Ampel am Schlagbaum trifft Christian R. das Trio. Sie kennen sich flüchtig. Die drei Jungen erzählen Christian R. von der Schlägerei. Der weiß, wie sie sich an den Türken rächen, ein Zeichen setzen können. Er erzählt den Jungen vom Haus gegenüber und von der Türken-Familie, die ihm ein Dorn im Auge ist. Wenig später kauft er an der Tankstelle am Schlagbaum Benzin. Die Jungen gehen zur Unteren Wernerstraße. Im Haus der Familie Genç brennt Licht. Christian B. und Markus G. stehen Schmiere, während Christian R. und Felix K. zu dem großen Fachwerkhaus gehen. Sie schütten das Benzin in den Windfang des Hauses, zünden die Pfütze mit einem Fidibus an und rennen weg.

Hatice Genç kann nicht schlafen. Sie steht noch einmal auf, schaut auf die Wanduhr im Haus und sieht, dass es schon 1.30 Uhr ist. Sie beschließt, Gardinen zu waschen. Dabei wird sie durch einen lauten Knall aufgeschreckt. In ihrer Parterrewohnung läuft sie zur Flurtür und schaut durch das Schlüsselloch. Sie sieht Flammen und viel Rauch. Sie weckt ihre Schwiegermutter, rennt zurück ins Bad und füllt in ihrer Panik einen Eimer mit Wasser, um das Feuer zu löschen. Doch dafür ist es zu spät. Der Flur steht in Flammen. Sie rettet sich mit einem Sprung aus dem Fenster. Ihr Schwager, der 15-jährige Bekir, springt ebenfalls aus dem Fenster. Er bleibt bewusstlos am Boden liegen; sein Körper ist von Brandverletzungen übersät. Ahmed Ince wird um 1.38 Uhr wach. Als der Schwiegersohn von Mevlüde Genç nach draußen blickt, sieht er die Flammen. Eine Flucht aus der Wohnung im Obergeschoss ist nur noch durch die Fenster möglich.

Um 1.42 Uhr geht die erste Alarmierung bei der Solinger Feuerwehr ein. Von einem Zimmerbrand an der Unteren Wernerstraße 81 ist die Rede. Sofort rücken zwei Löschfahrzeuge, eine Drehleiter, ein Rettungswagen und der Einsatzleiter aus. Während der Anfahrt gehen mehr als 30 Notrufe bei der Feuerwehr ein. Nun ist klar: Ein Wohnhaus steht in Vollbrand. Menschenleben sind in Gefahr. Weitere Kräfte rücken unmittelbar danach aus. Durch die Vielzahl der Anrufe sind die Notrufleitungen inzwischen belegt. Die ersten Kräfte treffen um 1.47 Uhr ein. Immer wieder wird nachalarmiert. Viele Solinger werden in dieser Nacht durch die Sirenen der Fahrzeuge geweckt, die zur Unteren Wernerstraße ausrücken. Den meisten ist schnell bewusst, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.

Gürsün Ince steht mit ihrer kleinen Tochter im Arm am Fenster. Gleich soll das Sprungkissen bereit sein. Die Anfahrt hat sich verzögert, weil die großen Einsatzwagen durch am Fahrbahnrand geparkte Autos zunächst nicht durchgekommen sind. Doch die Frau wird panisch und springt. An ihre Schreie werden sich die Nachbarn und auch die Feuerwehrleute vermutlich ihr ganzes Leben erinnern. Sie stürzt sieben Meter tief und prallt auf den Asphalt. Sie ist sofort tot. Die kleine Güldane wird schwer verletzt, aber sie lebt.

(Das abgebrannte Haus nach dem Anschlag. Heute stehen fünf Kastanien auf dem Grundstück. Archivfoto: dpa)

Die Rettungskräfte erreichen Durmus Genç während der Nachtschicht. Sofort fährt er nach Hause. Doch das, was bis vor wenigen Stunden ein Haus voller Leben und Freude war, ist nur noch ein loderndes Gerippe. Gürsün Ince († 27), Hatice Genç († 18), Gülüstan Öztürk († 12), Hülyia († 9) und Saime Genç († 4) werden in dieser Nacht ermordet. 14 weitere Familienmitglieder zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Schon am nächsten Morgen versammeln sich die ersten Solinger vor dem rauchenden Gerippe an der Unteren Wernerstraße. Sie sind schockiert, traurig, schämen sich. Spontan demonstrieren viele und ziehen durch die Stadt. Immer mehr Menschen kommen an den folgenden Tagen nach Solingen.

Unter die Trauernden mischen sich wütende türkische Nationalisten, die die Solinger Innenstadt in ein Schlachtfeld verwandeln: Am Schlagbaum brennen Reifen, Fenster werden eingeschlagen. Familienväter bringen ihre Kinder aus Angst vor den wütenden Horden zu Verwandten in Nachbarstädte. Nach Tagen, Wochen, Monaten wird den Solingern klar: Ihre Stadt ist nach diesem Pfingsten 1993 eine andere.

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