Inklusion in NRW Mehr Selbstständigkeit in der Förderschule

Der heute 18-jährige Luke hat lange Regeleinrichtungen besucht. Aber vor fünf Jahren fiel dann doch die Entscheidung für einen Wechsel.

Inklusion in NRW: Mehr Selbstständigkeit in der Förderschule
Foto: Doro Siewert

Burscheid. Allein war Luke eigentlich nie. Ein Zwillingsbruder, vier weitere Geschwister und eine handballbegeisterte Familie — da ist man fast zwangsläufig mittendrin. Und weil das Down-Syndrom ohnehin in vielen Fällen mit einem besonderen Sozialverhalten und einer charmant-zugewandten Art einhergeht, lag es nahe, den Jungen auch von den Regeleinrichtungen nicht auszuschließen. Das war beim Kindergarten so, bei der Grundschule und danach auch bei der Hauptschule.

Doch seit knapp fünf Jahren besucht Luke (18) die Martin-Buber-Schule, eine Förderschule für geistig Behinderte in Leichlingen-Witzhelden. Dabei wollte er selbst erst nicht wechseln („Hier sind ja alle behindert“) und auch Freunde und Bekannte reagierten irritiert. „Aber im Nachhinein sagen alle, es war eine gute Entscheidung“, blickt seine Mutter Angelika Latzel-Jörgens zurück. Die Geschichte eines Umdenkprozesses.

Als Luke mit vier Jahren im Burscheider Kindergarten „Bullerbü“ startet, ist er in der Johanniter-Einrichtung das erste behinderte Kind. „Die Kinder dachten erst, sie müssten ihn ständig betüddeln und beschützen. Aber er konnte schon recht viel“, erzählt seine Mutter. Kein Wunder, schließlich genießt er auch zu Hause keine Sonderrolle. Einmal in der Woche gibt es im Kindergarten eine Stunde Frühförderung. Um Sprach- und Ergotherapie kümmert sich die Familie in Eigenregie. Das ist der Preis für die Einzelintegration.

Auch die Grundschulzeit absolviert Luke problemlos in den üblichen vier Jahren — und ganz ohne Integrationshelfer. Ein älteres Mädchen übernimmt bei der Einschulung die Patenschaft für ihn. Ein Kontakt, der noch heute besteht. Gerade erst hat sie geschrieben, Luke habe mit dazu beigetragen, dass sie eine Entscheidung nach ihrer Schulzeit getroffen habe — für ein Praktikum in einem Wohnprojekt mit Behinderten.

Auch als Luke 2009 von der Grund- auf die Hauptschule wechselt, lässt sich alles erst ganz gut an. Doch dann wachsen erste Zweifel. „Die Lehrer haben schon genug damit zu tun, die normalen Schüler im Zaum zu halten“, schildert Latzel-Jörgens ihre Eindrücke. Dass er in schwierigen Fächern wie Physik aus dem Unterricht genommen wird, um in der Schulküche auszuhelfen, hält sie noch für sinnvoll. Aber als auf Betreiben der Lehrerinnen nach einem Jahr ein Integrationshelfer für Luke beantragt wird, der ihn durch den Schulalltag begleiten soll, ändert sich die Einschätzung zusehends.

Seine Mutter beobachtet, wie der zur Entlastung der Lehrerinnen gedachte Helfer Luke auch einen Teil seiner Selbstständigkeit nimmt. Die beiden werden immer häufiger aus dem Unterrichtsgeschehen ausgegliedert. Luke rutscht plötzlich in eine bis dahin kaum gekannte Außenseiterrolle. Zudem steht die Pubertät vor der Tür und seine Mutter fragt sich, in welchem Umfeld die tragfähigeren sozialen Kontakte entstehen und sich womöglich auch eines Tages eine Freundin finden lässt.

Denn den Eltern geht es beim Schulbesuch nicht in erster Linie um eine Leistungsoptimierung. „Luke soll glücklich sein und möglichst selbstständig sein Leben leben können“, sagt Latzel-Jörgens. Inklusion mit der Brechstange ist für sie kein Weg. „Man muss auch ein gutes Gefühl haben und denken, es passt. Es bringt nichts, wenn die Kinder am Ende nur rumsitzen und nichts verstehen.“ Im Sommer 2012 wird ihr Sohn kurzentschlossen umgemeldet.

In der Hauptschule sei Luke am Ende das schwächste Glied in der Kette gewesen. „Jetzt ist er das stärkste Glied.“ Dank der größeren Personalstärke können die Lehrer besser auf die einzelnen Kinder eingehen. Und Luke erfährt eine viel intensivere lebenspraktische Vorbereitung.

Inzwischen gilt der 18-Jährige im Familiengefüge als der Ordnungsliebendste. Er bringt seine Schmutzwäsche selbst in die Waschküche, „was keines seiner Geschwister schafft“, sagt die Mutter lachend. Kehrt er von einer Klassenfahrt zurück, ist der Koffer ordentlich wie am ersten Tag. Und wenn er in der Schule das Kochen eines Gerichts viermal hintereinander geübt hat, dann sitzt es auch.

Noch anderthalb Jahre soll Luke die Berufspraxisstufe der Förderschule besuchen. Dann könnte die Werkstatt Lebenshilfe im benachbarten Wermelskirchen die nächste Station sein. Entschieden ist noch nichts, aber für einen normalen Achtstundentag reicht Lukes Konzentrationsfähigkeit nicht aus — auch wenn für ihn nach Erreichen der Volljährigkeit feststeht: „Ich bin nicht behindert.“ Welche Schule für Kinder wie ihn richtig sei, müsse von Fall zu Fall entschieden werden, glaubt seine Mutter. „Aber ganz ohne Förderschule würde das nie gehen.“

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